„ Ich bewundere ihn sehr“, sagte Mael plötzlich ernst. „Er hat Euch angeführt im Kampf gegen Skarphedinn. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.“
Jessy musterte ihn erneut. Seine Worte waren so unverstellt ehrlich, sein Blick so offen und freundlich. Er erinnerte sie an Tychon. Nur dass Tychon ein Junge gewesen war, gerade zwanzig. Mael war ein erwachsener Mann.
„ Wünscht Euch das lieber nicht“, sagte sie bitter, denn die Erinnerung senkte sich wie ein finsterer Schatten auf ihr Gemüt.
„ Verzeiht mir“, sagte Mael leise. „Ich wollte nicht respektlos erscheinen.“
„ Schon gut. Ich muss jetzt wirklich gehen.“
Eilig ging sie in das inzwischen gut gefüllte Zelt und versuchte die düsteren Bilder abzuschütteln. Warum musste sie ausgerechnet an diesem wichtigen und schönen Tag an Tychons Tod und die schrecklichen Kämpfe erinnert werden? An all das Blut und die Angst? Sie schüttelte heftig den Kopf, um die Gedanken daran zu verscheuchen. Mael traf keine Schuld, er hatte nicht gewusst, was er mit seinen Worten auslöste. Jessy widerstand dem Wunsch, sich noch einmal nach ihm umzuschauen. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie in ganz Westland noch keinem so durch und durch netten Menschen begegnet war.
Mit Einbruch der Dunkelheit hatte heftiger Regen eingesetzt, der die Fackeln und Lagerfeuer qualmen und flackern ließ. Feuchte Kälte kroch unter die luftigen Festtagsgewänder der Gäste, doch das schlechte Wetter tat der ausgelassenen Stimmung keinen Abbruch. Es musste schon auf Mitternacht zugehen, doch noch immer brutzelte über den Feuern das Fleisch und verbreitete köstlichen Geruch. Die Menschen saßen eng zusammengedrängt unter den schützenden Planen, die man eilig aufgestellt hatte und tranken bei Gelächter und fröhlicher Musik Krug um Krug des kostenlosen Biers, das die Kaufmannsgilde für diesen Anlass gestiftet hatte.
Albin stand unter einem alten Baum, dessen dichtes Geäst ihn sowohl vor dem Regen, als auch vor den meisten neugierigen Blicken schützte. Er verspürte nicht den Wunsch, sich den Feiernden anzuschließen, konnte sich aber auch nicht aufraffen, den Park zu verlassen und nach Hause zu gehen. Den ganzen Abend schon beobachtete er das Zelt, in dem Amileehna mit ihren Gästen saß. Von außen, denn der Zutritt blieb ihm heute verwehrt. Man hatte ihn nun endlich auf seinen Platz verwiesen und der war hier, im Regen, bei den betrunkenen Städtern und nicht dort drinnen an Amileehnas Seite. Doch dieser Umstand störte ihn im Grunde nicht. Auch als er noch ein Edelmann gewesen war, hatte er sich niemals zugehörig gefühlt und niemand hatte ihm je auch nur eine Spur Ehrerbietung entgegengebracht. Nur zu gerne hätte er aber beobachtet und belauscht, was drinnen gesprochen wurde. Die Stadtwache schirmte die Königsfamilie jedoch völlig ab und bewachte alle Zelteingänge, damit keine unwillkommenen Störenfriede eindringen konnten. Irgendwann würde man Amileehna vermutlich herausschmuggeln, damit sie unbehelligt in die Eisenfaust zurückreiten und ein wenig schlafen konnte. Aber darauf zu warten erschien Albin - trotz aller Sehnsucht - nicht besonders verlockend. Er schlang die Arme um den Körper und versuchte, nicht an die Kälte zu denken, doch er trug nur ein dünnes Hemd und ein Wams, aber keine Jacke. Seit Stunden strich er wie ein hungriger Wolf um das Zelt herum und wartete darauf, dass er irgendetwas Interessantes beobachten konnte. Immer wieder kamen Gäste heraus um sich die Beine zu vertreten, unbeobachtet zu flirten oder sich ein wenig unter das einfache Volk zu mischen. Albin vermutete, dass so manche hübsche Hure in dieser Nacht ein kleines Vermögen verdiente. Es gab Würfeltische und Tanz und sicher so manch andere Unterhaltung für die jungen Männer von Stand, die nicht die ganze Nacht dort drinnen sitzen wollten. Über Politik schien niemand sprechen zu wollen, Albin hatte noch keine einzige bedeutungsvolle Unterhaltung belauscht. Er hatte reichlich Fleisch und Kuchen gegessen und auch Bier getrunken und es machte keinen Sinn, noch länger zu bleiben. Doch Amileehnas Anwesenheit in dem Zelt zog ihn an, wie das Licht eine Motte. Er konnte sie förmlich spüren und bildete sich ein, durch die undurchsichtige Zeltwand ihre Gestalt sehen zu können. Während er sich auf diesen Gedanken konzentrierte, spürte er das nunmehr wohlbekannte Kribbeln an seiner Wirbelsäule. Amileehna leuchtete wie ein bunter Schmetterling inmitten ihrer farblosen Gäste. Albins Augen, die nicht länger seine alten Augen zu sein schienen, sahen ihre zarten Bewegungen und er erahnte sogar das gleichmäßige Schlagen ihres Herzens durch all den Lärm hindurch. Dies war das erste Mal, dass er seine Sinne absichtlich ausschickte, um die Welt zu erkunden. Doch er spürte genau, dass er weit davon entfernt war, diese Fähigkeit zu kontrollieren. Hin und wieder erfüllte ihn sogar ein wenig Panik und er fürchtete, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wenn er sich so sehr in unsichtbare Bilder vertiefte, lösten sich Dinge in seinem Kopf aus ihren Verankerungen und sein Körper geriet aus dem Gleichgewicht. Einmal war er versehentlich gegen einen vorbeigehenden Mann gestolpert und der Stoß hatte ihn beinahe umgeworfen, so wenig hatte er sich selbst noch unter Kontrolle. Daher zog er es vor, im sicheren Schatten seines Baumes zu bleiben, wo er nicht gesehen wurde und sich mit einem raschen Griff Halt an dem rauen, uralten Stamm suchen konnte. Nun seufzte er. Langsam breiteten sich Kopfschmerzen aus, scharfe Blitze, die sich von seiner Nasenwurzel aus den Weg durch seinen Schädel bahnten. Ein Zeichen dafür, dass das, was er da tat, seinen Körper über die Maßen anstrengte. Doch noch ein letztes Mal wollte er es versuchen. Er konnte einfach nicht gehen, ohne wenigstens ganz kurz ihre Stimme gehört zu haben. Also bemühte er sich, sich gegen die oberflächlichen Eindrücke abzuschirmen, die auf ihn einstürmten: das Murmeln und Plätschern des Regens im dichten Laub des Baumes, das Geschrei, Gelächter und den Gesang der Menschen um ihn herum, den Geruch der Feuer und der feuchten Erde. Doch hier endete bereits seine ganze Konzentration, denn sobald er sich von diesen greifbaren Dingen löste, geriet sein Geist ins Stolpern und er stürzte haltlos in eine Welt aus Farben und geflüsterten Klängen, in der er keine Orientierung hatte. Nur Amileehna leuchtete in diesem Chaos wie eine Kerzenflamme in der Dunkelheit. Nach einigen anstrengenden Minuten konnte er sie schließlich so klar und deutlich erkennen, als stünde sie direkt neben ihm. Sein Herz zog sich zusammen. In ein goldenes, lebendiges Schimmern getaucht sah sie noch schöner aus. Sie redete und lächelte, aber ihr Gesicht wirkte müde und leer. Es war ein sehr anstrengender Tag für sie gewesen.
Plötzlich traf ihn etwas völlig unvorbereitet wie ein Faustschlag und riss ihn aus seinen Betrachtungen. Jemand ganz in der Nähe hatte seinen Namen ausgesprochen. Ohne aus seinem entrückten Zustand zu erwachen, wandte Albin seine Aufmerksamkeit dem Sprechenden zu und erkannte drei junge Männer, die soeben aus dem Zelt getreten waren. Er kannte ihre Namen nicht, nur irgendwelche Gäste aus einem anderen Teil des Landes, die hergekommen waren um sich zu amüsieren. Sie schienen ordentlich getrunken zu haben, denn ihr Gelächter klang zu laut und sie stützten sich gegenseitig.
„ Wo ist er nun, der Köter?“ fragte einer von ihnen und schaute sich suchend um. Instinktiv wich Albin zurück in die Dunkelheit. Aber die drei waren viel zu weit entfernt und betrunken. Sie würden ihn sicher nicht entdecken. Er jedoch konnte sie nicht nur genau sehen sondern auch jedes einzelne Wort verstehen.
„ Hat sich wohl verzogen“, antwortete ein anderer und schnaubte abfällig. „Was für ein armer Wicht. Streicht hierherum wie ein Hund und wartet auf Essensreste von der Hohen Tafel.“
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