Sie bewegten sich im Schritttempo vorwärts und mit jedem Meter schien sich Amileehna wohler zu fühlen. Ihr Lächeln wurde entspannter und sie begann zu winken. Jessy gelang es, einzelne Wörter aus dem Stimmengewirr heraus zu hören und dabei ging es ausnahmslos um die Schönheit und Pracht der zukünftigen Königin. Jessy hatte jedes Zeitgefühl verloren, sie konzentrierte sich nur noch darauf, die unmittelbare Umgebung im Auge zu behalten. Erst als sie zu der von Rheys so oft angesprochenen Stelle kamen, wo die Häuserreihen sich zueinander neigten, hob sie den Kopf und bemühte sich, einen durchdringenden Blick in jedes einzelne Fenster zu werfen. Doch alles, was sie sah, waren lachende Gesichter. Als plötzlich die laute Musik der vor ihnen marschierenden Kapelle verstummte, blinzelte Jessy überrascht. Aber sie waren tatsächlich schon am Ziel angekommen. Vor ihnen lag der Park mit seinen grünen Wiesen, Teichen und hohen Bäumen. Dazwischen standen die Festzelte und Buden. Das größte Zelt war nach einer Seite hin offen, so dass die königliche Familie mit ihren Gästen während des Essens das Treiben draußen beobachten konnte. Jessy hatte gehofft, dass sie sofort hineinschlüpfen konnten, Amileehna sich brav auf ihren Stuhl setzte und dort für den Rest des Tages sitzen blieb. Doch es hatten sich bereits mindestens hundert Städter eingefunden um auf das Eintreffen der Prinzessin zu warten. Als diese nun erschien und vom Rücken ihres Pferdes stieg, strömten sie aus allen Richtungen herbei. Jessy schob sich vor Amileehna und zog ihr Schwert, doch bevor jemand ihnen zu nahe kommen konnte, hatten die Männer von der Stadtwache, die hier zuständig waren, bereits eine Kette gebildet und hielten die Leute zurück. Die Enttäuschung auf den Gesichtern ließ Jessy plötzlich innehalten. Peinlich berührt steckte sie ihre Waffe ein. Was für ein Unsinn, sich gegen diese netten und friedlichen Menschen mit blanker Klinge verteidigen zu wollen.
„ Können wir sie nicht etwas näher herankommen lassen?“ fragte Jessy. „Amileehna könnte doch ein paar Hände schütteln.“
„ Ja, das würde ich gerne“, rief die Prinzessin.
Rojan schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Anordnung“, sagte er nur.
„ Ich kann mir schon denken, wer das angeordnet hat“, murmelte Jessy. Und da kam Rheys in gewohntem Laufschritt auf sie zu. Bevor Jessy ihre Idee vorbringen konnte, versuchte er schon, sie in das Zelt zu schieben. Inzwischen waren auch alle anderen Reiter abgestiegen und die adligen Gäste begannen, sich ihre Plätze für den Festschmaus zu suchen. Jessy beobachtete, wie die Wachen die Besucher immer weiter zurückdrängten, um Platz zu schaffen und dabei fiel ihr Blick auf ein kleines Mädchen, das einen Blumenstrauß an die Brust drückte. Sowohl das hübsche Kleid als auch der Strauß hatten unter dem Geschiebe und Gezerre in der Menge schon gelitten, doch am meisten rührte Jessy das traurige Gesicht, des Kindes, das sich so auf diesen Moment gefreut hatte. Sie versuchte, Rheys zurück zu halten, doch er hörte sie nicht. Da löste sich ein hochgewachsener Mann aus der Menge der Edelleute und ging mit zielstrebigen Schritten auf das Mädchen zu, schob den Wachmann zur Seite und kniete vor dem Mädchen nieder. Jessy hatte ihn noch nie gesehen, er trug schlichte, aber edle Lederkleidung und ein weißes Hemd. Das kleine Mädchen nickte und seine Augen strahlten plötzlich. Der Mann hob es hoch und trug es zu ihnen herüber. Amileehna, die ebenfalls alles beobachtet hatte, schob Rheys und Rojan zur Seite und kam dem Kind freundlich lächelnd entgegen. Jessy warf Rheys einen erschrockenen Blick zu. Hoffentlich verdarb er diese schöne Situation jetzt nicht. Wütend verschränkte er die Arme, sagte aber nichts. Amileehna nahm den Strauß entgegen und gab dem Kind einen Kuss auf die Wange. Die umstehenden Menschen lachten und applaudierten und der Zorn der zurückgewiesenen Menge schien sich zu legen. Freudestrahlend rannte das Mädchen mit flatternden Röcken zurück zu seiner Familie.
„ Darf ich erfahren, was das sollte?“ fuhr Rheys den fremden Mann an.
Dieser schien nicht im Mindesten eingeschüchtert, obwohl Rheys seine bedrohlichste Miene aufgesetzt hatte. Wenn er in solcher Stimmung war, wich Jessy immer noch instinktiv vor ihm zurück. Obwohl sie selten der Grund für seine Wut war.
„ Das Mädchen wollte der Prinzessin Blumen bringen“, antwortete der Mann. Er war ebenso groß wie Rheys und hatte dunkelblondes Haar, das ihm bis auf den Hemdkragen fiel. Auf seinen Lippen lag ein verschmitztes Lächeln. Jessy fühlte sich an irgendjemanden erinnert, kam aber nicht darauf, wer es war.
„ Das habe ich selbst gesehen“, schnauzte Rheys. „Die Prinzessin empfängt Gratulationen aus dem Volk erst übermorgen. In der Burg. Jeder, der sich ihr nähert, muss vorher überprüft werden.“
Völlig ungerührt von dem gefährlichen Tonfall legte der Mann Rheys freundschaftlich den Arm um die Schulter. „Es war doch nur ein kleines Mädchen, Mann. Sie sah mir nicht aus, als hätte sie einen Dolch unter ihrem Kleidchen versteckt. Sei mir nicht böse. Hast du nicht gesehen, wie sie sich gefreut hat?“
Nein, schoss es Jessy durch den Kopf. Natürlich hat er das nicht gesehen. Oder doch, und es war ihm einfach egal. Eilig schob sie den Gedanken beiseite. Rheys schüttelte den Arm ab.
„ Wenn ich eine Anweisung gebe, die der Sicherheit der Prinzessin dient, wird jeder sie befolgen“, sagte Rheys. „Das gilt auch für Euch. Keine Ausnahmen.“
Dann wandte er sich brüsk ab und dirigierte Amileehna in das Zelt, die jetzt willig folgte. Jessy blieb zurück. Drinnen würde Ami sicher nichts geschehen und sie brauchte einen Moment um sich zu sammeln.
„ So wie wir ihn kennen und lieben“, murmelte sie und fühlte plötzlich, wie großen Hunger und Durst sie hatte und wie anstrengend die letzten Stunden für sie gewesen waren.
„ Ihr seid die Leibwächterin der Prinzessin“, sagte der Mann neben ihr, den sie schon fast vergessen hatte. „Ist es wirklich so schlimm, was ich getan habe?“
Jessy wandte sich zu ihm um. Er lächelte noch immer. „Unsinn“, sagte sie. „Es war doch nur ein Kind. Ich fand es sehr nett, dass Ihr das gemacht habt. Rheys ist ein bisschen… übervorsichtig.“
„ Im Grunde hat er ja recht“, fuhr er fort. „Aber manchmal denke ich nicht so viel nach und dann tue ich ziemlich dumme Dinge.“ Er hob entschuldigend die Schultern. Jessy lächelte. Er war so sympathisch, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte. „Aber es hätte mir das Herz gebrochen, wenn das kleine Mädchen geweint hätte. Übrigens ist es mir eine große Ehre, Euch kennen zu lernen. Mein Vater hat viel von Euch gesprochen. Nur in den höchsten Tönen versteht sich.“
„ Und wer ist Euer Vater, wenn ich fragen darf?“ Jessy hatte keine Ahnung, was die vielen unterschiedlichen Wappen zu bedeuten hatten und sie kannte auch dieses nicht, das auf seinem Wams zu sehen war.
„ Ihr habt ihn auf Eurer Reise kennen gelernt. Alle nennen ihn nur Herr Efrem. Ich bin sein Sohn, Mael.“
„ Ich dachte schon, dass mir irgendetwas in Eurem Gesicht bekannt vorkommt. Ihr seht ihm ähnlich. Vielleicht kann ich ihn in den nächsten Tagen treffen. Es würde mich freuen, ihn wieder zu sehen.“
Sie hatte tatsächlich nur gute Erinnerungen an den offenen, lustigen Mann aus den Wäldern.
„ Er wird sich bestimmt darum bemühen. Aber ich glaube, Ihr werdet Tag und Nacht an der Seite der Prinzessin sein“, sagte Mael. „Und somit für jedermann ständig zu sehen.“
Jessy zog eine gequälte Grimasse. „Das befürchte ich auch. Und jetzt sollte ich, glaube ich, auf meinen Posten hineingehen. Macht Euch keine Gedanken wegen Rheys. Er beruhigt sich wieder.“
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