„ Die Handelsstraßen nach Südland sind also noch offen“, murmelte sie.
„ Der Stoff kommt direkt aus Samatuska und hat ein Vermögen gekostet“, berichtete Astri. „Keine Dame in der Eisenfaust wird auch nur ansatzweise so prachtvoll aussehen.“
Sie raffte Amileehnas schulterlanges Haar zusammen und hielt es nach oben. Mit einer festlichen Frisur, die auch noch den schwanengleichen Hals der Prinzessin und ihre zarte, weiße Haut zur Geltung brachte, würde sie wirklich die Schönste von allen sein.
Jessy befühlte noch immer fasziniert den Stoff zwischen ihren Fingern. Die Westländer hatten Magie gänzlich aus ihrem Land verbannt. Bei Luxusgütern aus dem Südland, die offensichtlich mit Hilfe von Zauberei hergestellt wurden, machte man wohl eine Ausnahme. Aber das hatte wahrscheinlich bald ein Ende.
Fabesto hatte nach seiner Audienz beim König sofort Albin Bericht erstattet. Der König wollte abwarten, wie sich die Spannungen zwischen den beiden Ländern entwickelten. Wie immer zögerte er, aggressive Schritte einzuleiten. Aber sobald die Kaufleute besorgt genug waren, um sich offen an ihren Herrscher zu wenden, würde ihm nichts anderes mehr übrig bleiben, als zu handeln. Jessy hatte keine genaue Vorstellung, was das bedeutete. In ihrer eigenen Welt gab es Gipfeltreffen und zähe Verhandlungen, Demonstrationen und Machtspielchen, die sich fern von dem alltäglichen Leben der Bürger abspielten. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es hier ganz anders ablaufen würde. Sie kannte Futush, den impulsiven und unberechenbaren Fürsten aus Samatuska. Und sie konnte sich vorstellen, dass er nicht lange verhandelte, wenn er etwas wirklich haben wollte. Der Gedanke beunruhigte sie.
Nach dem Abendessen kehrten sie in Amileehnas Zimmer zurück. Jessy war müde. Es ging ihr auf die Nerven, den ganzen Tag im Haus zu sein. Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und nahm etwas Brot von dem bereitgestellten Teller. Als Amis Leibwächterin saß sie natürlich nicht an der Tafel und speiste mit den Gästen, sondern stand hinter ihrem Stuhl und behielt den Saal im Auge. Zum Glück richtete sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden komplett auf Amileehna und niemand beachtete Jessy. Sie hatte versucht, all die Anweisungen zu beherzigen, die man ihr gegeben hatte, doch schon nach einer Stunde stellte sie fest, dass es schwer war, konzentriert zu bleiben. Alle in der Halle waren fröhlich und guter Dinge. Nicht der Hauch einer Gefahr lag in der Luft. Rheys saß ziemlich weit unten an der Tafel und Jessy wusste genau, dass er sie ständig beobachtete. Also gab sie sich Mühe, ihre Langeweile und Unruhe nicht nach außen dringen zu lassen. Der kühle Wein linderte nun ihre Anspannung und sie lauschte auf das gedämpfte Gespräch zwischen Astri und Amileehna, die im Nebenraum dabei waren, die Prinzessin bettfertig zu machen. All der Lärm und die Aufregung, die die Eisenfaust fest im Griff hatten, schienen weit weg zu sein, wenn man sich hinter diesen Türen verbergen konnte. Schließlich erschien Amileehna mit offenem Haar und in ein dünnes bodenlanges Nachthemd gehüllt, durch das sich ihr schlanker Mädchenkörper deutlich abzeichnete. Astri sagte ihnen gute Nacht und schloss leise die Tür hinter sich. Weil Jessy nun hier war, brauchte die Zofe nicht in Amileehnas Zimmer zu schlafen und räumte ihren Schlafplatz bereitwillig. Erleichtert zog Jessy ihre Stiefel aus.
„ Es ist unerträglich heiß hier drin“, sagte sie und zerrte an ihrem dicken Lederharnisch. Sie schwitzte entsetzlich. „Müssen wir so viele Kerzen haben?“
Nachdem sie zwei der fünf vielarmigen Leuchter gelöscht hatte, stieß sie das Fenster auf und stolperte plötzlich rückwärts. Ein erschrockenes Keuchen drang aus ihrer Kehle. Vor dem Fenster hockte ein dunkler Schatten. Jessy zückte ihren Dolch ohne darüber nachzudenken. Da tauchte ein bekanntes, sommersprossiges Gesicht aus der Dunkelheit auf.
„ Spinnst du?“ rief sie. „Ich hätte dich fast abgestochen!“
Während sie mühsam Atem holte, hörte sie hinter sich Amileehna aus dem Bett springen.
„ Albin!“
„ Guten Abend, Prinzessin“, sagte er und grinste. „Ich hoffe, ich habe dich nicht aufgeweckt.“
„ Natürlich nicht“, antwortete Amileehna glücklich. „Es ist noch früh.“
„ Dann bist du nicht müde? Das ist gut. Ich komme um dich zu entführen.“
Amileehna lachte. „Mich entführen! Ich glaube, dafür bin ich nicht passend angezogen.“
Erst jetzt erinnerte sich Jessy an Amileehnas durchsichtiges Hemd. Sie hatte sich weitgehend von ihrem Schrecken erholt und stellte sich zwischen die beiden.
„ Was soll denn das, Albin?“ fragte sie wütend. „Machst du das öfter? Dich hierherein schleichen? Wenn dich jemand sieht…“
„ Keine Sorge“, beschwichtigte er sie. „Das ist das erste Mal. Allzu oft werde ich diesen Aufstieg sicher nicht wagen. Immerhin komme ich über das Dach und warte seit geraumer Zeit auf dem Fenstersims.“
„ Wohin gehen wir?“ fragte Amileehna neugierig. Sie war bereits dabei, sich Schuhe anzuziehen.
„ Das werde ich dir zeigen, wenn es soweit ist“, antwortete Albin geheimnisvoll.
„ Moment mal“, fuhr Jessy dazwischen und nahm den Arm der Prinzessin. „Du gehst überhaupt nirgends hin. Dachtest du ernsthaft, dass ich das erlaube?“
Albin zuckte die Schultern und grinste weiterhin spitzbübisch. Sicher hatte er sich das von Dennit abgeschaut.
„ Du sagst doch immer, du hältst nichts von den westländischen Anstandsregeln.“
„ Das tue ich auch nicht! Ich bin die letzte, die zwei jungen Leuten ihren Spaß verdirbt. Aber ich bin verantwortlich für Amis Sicherheit. Und bestimmt wollt ihr nicht, dass ich mitgehe.“
„ Ich würde sie niemals in Gefahr bringen“, sagte Albin ernst.
Jessy seufzte. „Das weiß ich doch. Trotzdem. Bringt mich bitte nicht in Schwierigkeiten.“
„ Jessy hat recht“, meinte Amileehna. „Es wäre dumm, aus dem Zimmer zu gehen. Obwohl ich es gern tun würde. Aber wenn uns jemand sieht, wäre das der Anfang vom Ende.“
„ Vielen Dank! Du hast es gehört, Albin. Verschwinde.“
„ Das würde ich ja“, sagte Albin und blickte über die Schulter in die Dunkelheit. „Aber es gibt ein kleines Problem.“
„ Und das wäre?“
„ Das Abendessen ist zu Ende und der ganze Hof ist voller Leute. Der Wehrgang ist erleuchtet, damit die Gäste sich nicht verirren. Wenn ich jetzt wieder auf’s Dach klettere, sieht mich jeder.“
Jessy kniff die Augen zusammen. „Das hast du dir wirklich geschickt ausgedacht.“
Sie packte seinen Arm und zog ihn durchs Fenster. „Komm schon rein, du Schwachkopf.“
Amileehna juchzte leise, als Albin ins Zimmer purzelte und half ihm auf die Füße.
„ Aber seid bloß leise!“
Damit nahm Jessy ihr Weinglas und zog sich in Amileehnas Ankleidezimmer zurück. Sie war nicht die Anstandsdame der Prinzessin und für Albin legte sie ihre Hände ins Feuer. Außerdem konnte sie von hier aus jeden Besucher abwimmeln, der sich jetzt noch hierher vorwagte. Wenn alles still wurde, konnte sie Albin unbemerkt hinaus schleusen. Sollten die beiden doch ein paar Stunden miteinander haben.
Sie setzte sich in einen Sessel und legte die Füße auf einen Hocker. Wenn sie so streng daher redete, hörte sie sich an wie Rheys. Wüsste er, was sie gerade getan hatte, würde er ihr den Hals umdrehen. Noch am Nachmittag hatte er ihr ausdrücklich aufgetragen, Albin in der nächsten Zeit von Amileehna fern zu halten, damit keine Gerüchte entstanden.
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