Efrem und sein Gefolge hatten ihren Weg durch den Saal fortgesetzt und waren nun endlich bei Albin, Dennit und Bosco angelangt.
„ Herr Albin“, sagte Efrem und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Du hast dich gemacht, wie ich sehe. Man hat Großes über dich gehört. Als ich dich zuletzt sah, konntest du die Augen nicht von deinen Stiefeln heben. Und jetzt steht ein Mann vor mir!“
„ Wie schön, Euch zu sehen, Herr Efrem“, antwortete er ehrlich.
„ Vater, bist du dir sicher?“ warf Mael ein. Er hatte dunkelblondes Haar und ein ebenso gewinnendes Lächeln wie sein Vater. „Das soll der junge Albin sein? Der bei den Nebelklippen gekämpft hat? Ich dachte, es wäre ein Pferdeknecht.“
„ Rede nicht so daher!“ wies ihn Efrem zurecht. „Dieser Junge hat geholfen, das Westland zu retten. Er war einer von Prinz Tychons engsten Freunden.“
„ Ein Missverständnis, Herr“, sagte Albin, der sich nicht im Mindesten beleidigt fühlte. „Ich bin Eurem Sohn schon heute Vormittag in den Ställen begegnet.“
Albin hatte nach Arro sehen wollen. Er sah es lieber, wenn sein Hengst den ganzen Tag auf der Koppel war, zumal im Stall ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Arro war von Natur aus nervös und sollte durch die vielen fremden Pferde und Menschen nicht noch zusätzlich gereizt werden. Als er festgestellt hatte, dass man den Hengst bereits nach draußen gebracht hatte, sah er Mael und seine Freunde im Hof. Zusammen mit Lando begutachteten sie einen wunderschönen Fuchs - Maels Pferd - das die Reise anscheinend nicht gut verkraftet hatte. Das Tier schwitzte und schonte einen Hinterhuf. Außerdem warf es ständig den Kopf hoch und rollte die Augen. Die fremde Umgebung schien ihm zuzusetzen. Doch was Albin sofort fühlte war, dass das Pferd große Schmerzen hatte. Er wusste nicht, woran er es erkannte, aber er fühlte sich förmlich überwältigt von der Empfindung des Tiers. Beinahe spürte er sie am eigenen Leib und jedes Haar an seinem Körper stellte sich auf. Er ging langsam näher und hörte, wie Mael sich besorgt mit dem Stallmeister unterhielt. Lando tastete Rücken und Beine des Fuchses ab, seine Brauen waren vor stummer Konzentration zusammen gezogen.
„ Ich kann nichts entdecken“, murmelte der Mann nachdenklich. „Keine Verspannungen. Der Huf ist kühl und das Eisen sitzt fest. Und du bist sicher, dass er nicht gestolpert ist?“
„ Er lief hervorragend. Erst kurz vor unserer Ankunft begann er, zu lahmen.“ Aus seiner Stimme entnahm Albin, dass er wirklich besorgt um sein Pferd war und das machte ihn Albin sofort sympathisch. Mael trug noch die schmutzige Reisekleidung und sah aus, als habe er noch nicht einmal einen Schluck getrunken. Zuerst suchte er Hilfe für sein Pferd. Irgendetwas trieb Albin näher heran. Er kannte sich mit Pferden wirklich nicht besonders gut aus und hätte es nie gewagt, sich einzumischen. Doch je länger er den Fuchs betrachtete, desto deutlicher wurde das Bild, das sich in seine Gedanken drängte. Er sah ein Feld und spürte die Hitze der Sonne auf seiner Haut. Und plötzlich war da ein stechender Schmerz in seinem Bein, der erst abflaute und dann zu einem ständigen Pochen wurde. Albin rieb sich unwillkürlich mit der Handfläche über den Oberschenkel und das Gefühl verflog.
„ Eine Wespe“, sagte er laut, ehe er noch weiter darüber hatte nachdenken können. Die Männer schauten auf. Zuerst wollte Albin seinem natürlichen Instinkt folgen und der allgemeinen Aufmerksamkeit entkommen. Doch dafür war es nun zu spät. Er straffte die Schultern.
„ Was meinst du?“ fragte Mael neugierig. „Komm näher, Junge!“
Also blieb ihm nichts anderes übrig und er trat an das Pferd heran.
„ Ihr seid durch das Hügelland geritten. In den Feldern wimmelt es von Wespen, besonders giftig ist die große Räuberwespe. Sie sticht das Vieh auf den Weiden und die Bauern versuchen ständig, sie auszurotten. Aber ohne Erfolg.“
Albin bückte sich und untersuchte das Bein des Pferdes genauer. Mael und Lando taten es ihm nach. Schließlich entdeckten sie an der Innenseite eine kleine Schwellung.
„ Tatsächlich“, sagte Mael.
Als sie sich aufrichteten, klopfte er Albin auf die Schulter. „Sehr gut, mein Junge! Wie konntest du das nur wissen?“
Nun wand sich Albin wirklich ein wenig. Wie sollte er erklären, dass er gefühlt hatte, was das Pferd fühlte? Auch wenn es nur für einen winzigen Augenblick gewesen war. Er zuckte die Schultern.
„ Ich habe nur geraten“, murmelte er.
Nun ließ Mael wieder die Hand auf seine Schulter fallen. Er war beinahe so groß wie Bosco und überragte Albin um einiges.
„ Ein Hellseher ist er! Zum Glück, dass er gerade da war und uns weiterhelfen konnte. Wärst du nur ein Knecht, würde ich dir etwas zustecken für deine Dienste. Aber unter diesen Umständen danke ich dir von Herzen. Und es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen. Ganz Westland spricht über deine - über eure - Tapferkeit.“
Damit schloss er auch Bosco und Dennit mit ein.
„ Nicht der Rede wert. Ich hoffe, dem Pferd geht es nun besser?“
„ Viel besser. Lando hat ihm einen Umschlag aufgelegt. Er schien nicht so begeistert davon zu sein, dass ein Junge im Vorbeigehen dieses Rätsel gelöst hat.“ Mael zwinkerte Albin zu.
„ Wann kommst du in den Bergfried, Efrem?“ fragte Bosco. „Althan und Rheys werden sich ebenfalls freuen, dich zu sehen. Und deinen Sohn natürlich.“
„ So bald wie möglich“, versprach Efrem. „Diese ganzen Förmlichkeiten hier verschlingen doch nur kostbare Zeit, die man mit angenehmeren Dingen verbringen könnte.“
„ Der Geburtstag der Prinzessin ist doch ein Grund für große Feierlichkeiten“, wandte Albin ein.
Efrem schenkte ihm einen vielsagenden Blick. „So wie ich das Mädel kennen gelernt habe, würde sie einen Ritt durch die Wälder und ein Essen am Lagerfeuer diesem ganzen Pomp jederzeit vorziehen. Oder haben die letzten Monate sie so sehr verändert?“
„ Mehr als Ihr ahnt“, antwortete Albin leise.
„ Ich für meinen Teil bin sehr gespannt, sie zu sehen“, sagte Mael. „Ganz Westland spricht von ihrer außergewöhnlichen Tapferkeit und ihrem Mut. Und von ihrer Schönheit nicht zu vergessen.“
Wieder dieses verschwörerische Zwinkern. Doch dieses Mal spürte Albin, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Ihre Schönheit hat dich nicht zu interessieren… Natürlich verbot ihm seine Höflichkeit, das zu sagen. Er wusste nur zu gut, dass es in der Eisenfaust von Heiratskandidaten wimmelte und dass zumindest Königin Sílean bereits ihre Fühler ausstreckte. Plötzlich fragte er sich, ob es wirklich so einfach sein würde, all das zu akzeptieren und zuzusehen, wie Ami jemand anderen heiratete.
Normalerweise kam es nicht vor, dass Albin die Große Halle vorzeitig verließ. Erstens wollte er keinen kostbaren Moment versäumen, in dem er Amileehna sehen konnte - und sei es auch nur aus der Ferne. Zweitens ließ er sich unter keinen Umständen die Süßigkeiten entgehen, die den Abschluss des Essens bildeten. Aber an diesem Abend erhob er sich schon nach dem ersten Fleischgericht von seinem Platz. Das Essen war außergewöhnlich köstlich gewesen, Kyra wollte den hochwohlgeborenen Gästen nur die erlesenste Speiseauswahl servieren. Doch es waren etwa doppelt so viele Menschen in der Halle wie sonst und Albin hatte kaum einen Platz ergattern, geschweige denn einen Blick auf Amileehna werfen können. Sie war belagert von neugierigen Gästen, die bei diesem ersten ungezwungenen Abendessen der Festwoche einen Plausch mit ihr halten wollten. Es war unglaublich laut und Albin bezweifelte, dass er irgendetwas Sinnvolles oder Wichtiges erfahren würde, wenn er blieb. In diesem Gewühl konnte er die Gesichter nicht einmal ansatzweise zuordnen. Mit einem erleichterten Seufzen trat er hinaus in die Abenddämmerung. Der Sommer schien sich mit übergroßen Schritten zu nähern. Es blieb bereits länger hell und die Luft war mild und lud dazu ein, unter den ersten aufleuchtenden Sternen zu sitzen und gekühlten Wein zu trinken. Wie von selbst trugen ihn seine Füße hinüber zum Bergfried. Schon von Weitem hörte er Gelächter. An einem langen Tisch saßen die Männer der Garde beisammen, die gerade keinen Dienst im Palast hatten, aßen, tranken Bier und scherzten miteinander. Wortlos machten sie Platz für Albin und schoben ihm einen Krug zu. Albin nahm einen tiefen Schluck. Alle Männer lauschten gerade Efrem, der es wohl ebenso wenig in der Halle ausgehalten hatte, wie Albin. Auch sein Sohn war da. Albin konnte nur den Schluss der Geschichte hören, die Efrem gerade zum Besten gab. Er war ein geborener Erzähler und die letzten Worte gingen im schallenden Gelächter der Männer unter. Meistens ging es um kuriose Erlebnisse aus irgendwelchen Schlachten, um Jagdabenteuer oder gehörnte Ehemänner. Albin hörte nur mit halbem Ohr zu. Die vom Fackelschein erhellten Gesichter seiner Freunde erinnerten ihn an unzählige Abende am Lagerfeuer, die sie so verbracht hatten. Mit Bier und Geschichten, die Pferde friedlich grasend in der Nähe, die Waffen in Griffweite, falls sich ein Angreifer heranwagte. Damals war alles so einfach gewesen. Es hatte nur ein Ziel gegeben, nur eine Richtung, in die man gehen musste. Sie hatten Geheimnisse lüften und erfahren wollen, warum die Dinge aus Jessys Welt in Westland auftauchten. Niemand hatte damals geahnt, was ihnen bevorstand.
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