„ Das darfst du nicht ernst nehmen“, sagte Jessy. „Sie wollte mich nur provozieren.“
„ Du konntest sie nicht zurecht weisen. Ich schon.“
„ Aber doch nicht wegen so einer Kleinigkeit! Das ist den Ärger doch nicht wert.“
Amileehna schaute sie neugierig an. „Ich finde nicht, dass es eine Kleinigkeit ist.“
„ Ist mir doch völlig egal, was sie denkt“, murmelte Jessy. „Oder was irgendjemand denkt. Du weißt, dass Tychon und ich Freunde waren und sonst nichts. Und das ich nicht…“
„ Hör auf damit“, sagte Amileehna und setzte sich neben Jessy auf den weichen Teppich. Sie nahm ihre Hände in ihre eigenen. „Natürlich weiß ich das. Lass uns jetzt nicht mehr davon sprechen bitte.“
Während Amileehna davon redete, wie sehr sie sich über Jessys Einzug freute, lagen Jessys Hände kalt und taub in ihrem Schoß. Auch ihr Gesicht fühlte sich taub an. Und in ihrer Brust war ein stechender Schmerz aufgetaucht, der mit jedem Schlag ihres Herzens intensiver wurde. Ein mühsam unterdrücktes Schluchzen nahm ihr den Atem. Sie verabschiedete sich schon nach kurzer Zeit und verließ schnell das Zimmer und den Palast. Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, zu rennen. Ja, es war ihr egal, was die Menschen über sie dachten. Zumindest gab sie sich alle Mühe, es so zu sehen. Aber nun hatte die Königin es offen ausgesprochen, was sonst nur hinter Jessys Rücken gemunkelt wurde und was sie vorgab, nicht zu hören. Sie war so wütend auf diese dummen rückständigen Menschen und ihr Misstrauen. Sie war eine Fremde aus einer gefährlichen unbekannten Welt. Keiner hatte bis jetzt verstehen können, wie sie hierher gelangt war. In kürzester Zeit hatte sie das blinde Vertrauen beider Königskinder erlangt. Und wurde von den Männern der Wolfsgarde derart hoch geschätzt, dass sie beinahe als ein Teil davon gelten konnte. Wen wunderte es da, dass niemand sie mochte? Zumindest niemand aus der Oberschicht.
Erschöpft erreichte sie ihr Zimmer im Prinzenbau und schloss den Riegel hinter sich. Am Schrank hing das herrliche Kleid. Bestimmt würde sie großartig darin aussehen. Verkleidet als eine Hofdame, die sie niemals sein würde. Damit konnte sie leben. Aber was, wenn die Königin doch recht hatte? War ihre Beziehung zu Rheys wirklich mehr als nur eine Bettgeschichte? Oder hatten ihre romantischen Fantasien sich nur verselbstständigt und sie verschloss die Augen vor der Wahrheit - weil es so schön war? Unbewusst tastete sie nach dem Ring an ihrem Finger - wie so viele Male am Tag - um sicherzugehen, dass sie ihn nicht verloren hatte. Der Ring bedeutete doch irgendetwas oder nicht? Also Schluss damit. Diese böse, missgünstige Frau sollte keinen Zweifel in ihr sähen. Am besten dachte sie gar nicht mehr darüber nach. Aber es fiel ihr immer schwerer, sich gegen all die Feindseligkeiten abzuschotten. Jessy ärgerte sich über sich selbst. In ihrer eigenen Welt war sie niemals Opfer von Lästereien geworden. Solche Dinge prallten an ihr ab. Sie war selbstbewusst und wusste, wo sie im Leben stand. Doch hier war sie fremd und angreifbar und - trotz der vielen wertvollen Freundschaften - allein. Dabei war sie doch so viel stärker als früher. Nicht nur körperlich. Es war schwer, all die Veränderungen zu benennen. Konnte man wirklich zu einem anderen Menschen werden? Und wie viel von der alten Jessy war noch übrig? In jedem Fall musste sie sich ein dickeres Fell zulegen. Wenn Amileehna Königin war und sie an ihrer Seite stehen musste, durfte sie sich nicht von so etwas aus der Fassung bringen lassen.
Gerade hatte sie einen Becher Wein getrunken um ihre Nerven zu stärken, als es an der Tür klopfte. Ein Mädchen aus der Küche trat zögernd ein.
„ Kyra schickt mich“, sagte es. „Sie benötigt ein paar besondere Gewürze und in der Küche gibt es so viel zu tun, dass sie niemanden entbehren kann. Deshalb bittet sie Euch, in die Stadt zum Laden von Frau Tesuna zu gehen.“
„ Das mache ich gern“, sagte Jessy und war in der Tat froh über diese Ablenkung. „Ich kenne den Laden.“
Sie nahm Kyras Liste und eine kleine Börse mit Münzen entgegen und machte sich im Laufschritt auf den Weg. Sie war noch nie allein in Ovesta unterwegs gewesen und hatte einen Dolch in ihre Rocktasche geschoben - nur zur Sicherheit. Doch der Laden von Frau Tesuna lag in einer guten Gegend und sie erreichte ihr Ziel, ohne behelligt zu werden.
Das Geschäft war klein und eingeklemmt zwischen einem Laden für Seife und Parfum und einer Bäckerei. Die verschiedenen Gerüche, die hier aufeinander prallten, verursachten ihr Übelkeit. Jessy stieß die kleine Tür auf und trat ins Halbdunkel. Die niedrigen Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Regalen bedeckt, auf denen hunderte Töpfe und Gläser in unterschiedlichen Größen standen. Alles war ordentlich beschriftet und Jessy verbrachte einen Moment damit, die verschiedenen Namen der Gewürze zu lesen. Dann hörte sie ein Rumoren und eine gebückte Gestalt kam aus den dunklen Innereien des Ladens hervor. Wenn es jemanden gab, der alle Klischees einer Kräuterhexe erfüllte, dann war es Frau Tesuna. Sie war alt und ihr Haar lang und steingrau. Trotz der unzähligen Runzeln in ihrem Gesicht waren ihre Augen wach und scharf. Sie stützte sich auf einen Stock und auf ihrer Schulter saß tatsächlich ein Rabe. Als Jessy das erste Mal mit Kyra hier gewesen war, hatte sie ihren Augen nicht getraut. Das Tier war riesig und pechschwarz mit einer einzigen roten Feder in jedem Flügel.
„ Guten Tag“, sagte Jessy höflich und trat näher. „Frau Kyra aus der Eisenfaust schickt mich. Sie braucht ein paar Gewürze.“
Sie reichte der Frau die Liste.
„ Ah, ich sehe“, sagte Frau Tesuna. „Die Gäste werden mit dem Besten vom Besten versorgt.“ Sie schenkte Jessy ein Lächeln voller Zahnlücken. „Warte eine Sekunde, Kind, ich suche alles zusammen.“
Es dauerte nur einen kurzen Moment. Die alte Frau bewegte sich erstaunlich schnell und behände durch ihr Reich, kletterte auf Schemel und Leitern, wenn die Behältnisse zu hoch standen, die sie brauchte und murmelte die ganze Zeit vor sich hin. Zuerst dachte Jessy, dass sie Selbstgespräche führte um sich zu konzentrieren. Dann erkannte sie, dass Frau Tesuna mit dem Raben sprach.
„ Du hast recht“, sagte sie nun leise. „Ein bisschen mehr kann nicht schaden.“
Schließlich hatte sie alle Zutaten abgefüllt und in Jessys Korb gepackt.
„ Aber du benötigst noch etwas, oder?“ fragte sie dann und sah Jessy forschend an. Sie zog die Schultern hoch und war sich sicher, dass die Frau ihre Gedanken lesen konnte.
„ Das stimmt. Ich brauche Mondtee“, sagte Jessy leise.
Frau Tesuna tätschelte ihre Hand. „Wusste ich’s doch“, sagte sie zufrieden und verschwand durch einen dunklen Vorhang.
Jessy stieß die Luft aus. In Westland war Verhütung nicht verboten, trotzdem aber verpönt. Der Tee, den sie jeden Monat trank um eine Schwangerschaft zu verhindern, war das übliche Mittel, das so ziemlich jede ledige Frau in der Eisenfaust anwandte. Selbst einige verheiratete Frauen taten es, wenn sie schon genug Kinder hatten oder verhindern wollten, weitere vom falschen Mann zu bekommen. Trotzdem wurde nicht laut darüber gesprochen. Jessy hätte sich ihre Ration auch bei der Hebamme in der Burg besorgen können. Doch nach ihrem letzten Besuch hatte Jessy genug von der Frau. Sie hatte die Arznei zuerst kommentarlos herausgegeben und, als Jessy schon auf dem Weg aus dem Zimmer war, hinter ihrem Rücken gesagt: „Recht hat sie. Rennen schon genug vaterlose Welpen durch die Burg.“
Die Worte hatten Jessy geärgert und auch ein wenig verletzt. Also musste sie eine andere Quelle finden und war erleichtert, dass Frau Tesuna offenbar sehr viel diskreter war. Sie überreichte Jessy den Beutel mit einem Grinsen, als wollte sie ihr viel Vergnügen damit wünschen.
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