Überall in Ovesta hatten die Menschen diese Bilder von Tychon errichtet. Es waren Mahnmale, die an seine Tapferkeit erinnern sollten. Und an die Gefahr, in der das ganze Land geschwebt hatte. Die Menschen sangen Lieder über ihn und über ihren Kampf gegen Skarphedinn. Er war zu einer Legende geworden, der schöne Königssohn, der sterben musste, bevor er den Thron besteigen konnte.
Jessy hob den Blick und sah, dass Rheys’ Miene sich verdüstert hatte. Seine Lippen waren zusammen gepresst und seine Kiefermuskeln arbeiteten. Tychon war nicht nur wie ein kleiner Bruder für ihn gewesen. Nach seinem Tod hatte Rheys derart an sich und seinen Fähigkeiten gezweifelt, dass er sein Amt in der Leibgarde beinahe aufgegeben hätte. Tychon zu beschützen war sein Lebenssinn gewesen und darin hatte er versagt. Dies und seine tiefe Trauer machten ihm noch immer schwer zu schaffen. Aber Jessy wusste, es machte keinen Sinn, ihm tröstende Worte zu sagen. Also schob sie stumm ihre Hand in seine und spürte, dass er ihre Finger fest drückte.
„ Lass uns gehen“, sagte sie leise und zog ihn fort.
Rheys kannte die Stadt in- und auswendig und führte Jessy oft auf so verschlungenen Wegen durch das Gassengewirr, dass sie völlig die Orientierung verlor. Nun jedoch erkannte sie schnell, dass er sie zur Hauptstraße führte, die Ovesta wie eine Schlucht durchschnitt. Dort herrschte immer Gewimmel, egal zu welcher Tageszeit. Jetzt schlossen die Marktstände und die Händler räumten ihre Waren ein, während die Tavernen ihre Türen öffneten. Sie befanden sich am unteren Ende der ansteigenden Straße und sahen die Eisenfaust herrschaftlich über der Stadt thronen. Die ganze Stadt lag zwischen ihnen und der Burg und auf dieser Straße würde Amileehna sie auch durchqueren. In der nächsten Woche begannen die Feierlichkeiten zu ihrem Geburtstag und wenn alle Gäste versammelt waren, würde es einen großen Festzug geben. An vielen Ecken in Ovesta bereitete man sich schon darauf vor. Überall wurden Gerüste für Girlanden errichtet und man konnte bereits unzählige Fahnen und Wimpel an den Fenstern und Balkonen der Häuser sehen. Die Stadt freute sich auf das Fest, denn es bedeutete ausschweifende Genüsse, die allesamt vom König selbst spendiert wurden. In den Straßen würden Wein und Bier ausgeschenkt werden und die königlichen Ställe stellten über fünfzig Schweine zur Verfügung, die am Spieß braten sollten, während das Volk die Prinzessin feierte. Der Geburtstag selbst sollte ein Feiertag sein, an dem die Arbeit ruhte und es überall in der Stadt Musik und Tanz gab. All das diente nicht nur dazu, die Westländer milde zu stimmen und auf ihre zukünftige Herrscherin einzuschwören. Amileehna sollte auch den versammelten Edelleuten vorgestellt werden, die aus allen Landesteilen kamen. Endlich würde sich jeder ein Urteil bilden können. Und damit auch das Volk sie zu sehen bekam, sollte sie durch die Straßen reiten und sich präsentieren. Nicht nur für Amileehna war das alles eine Bewährungsprobe, die sie um den Schlaf brachte. Jessy sollte zum ersten Mal als ihre Leibwächterin auftreten und nicht von ihrer Seite weichen. Einerseits fühlte sie sich bereit dafür, andererseits war sie schrecklich aufgeregt und hatte Angst, Fehler zu machen. Die Wölfe hatten sie jedoch gewissenhaft geschult und sämtliche Szenarien mit ihr durchgespielt, vom Messerangriff bis zum pöbelnden Trunkenbold - Jessy würde die Prinzessin verteidigen können. Dessen waren sich alle sicher und das bestärkte auch sie selbst. Doch dieser Ritt durch die Stadt war Rheys ein Dorn im Auge und er brachte sie ein ums andere Mal hierher und ging mit ihr die Straße auf und ab. Sie sollte jeden Meter des Weges genau kennen und die gefährlichen Stellen rechtzeitig abschätzen, wenn sie daran vorbei kamen.
Nun erreichten sie einen Abschnitt, wo zu beiden Seiten der Straße mehrstöckige Häuser standen. Die Fenster waren um diese Zeit noch dunkel, aber bald würden sie hell und freundlich erleuchtet sein. Für Rheys blieben es jedoch die Todesfallen.
„ Ein einzelner Pfeil genügt, das weißt du“, sagte er. „Wie viele Fenster sind es?“
Jessy hatte mit dieser Frage gerechnet. „Links vier auf jedem Stockwerk und beim nächsten Haus zwei. Rechts drei und vier.“
Sie spürte Rheys prüfenden Blick. „Und eine Dachluke“, fügte sie hinzu. Er nickte zufrieden.
„ Wie viele sind das insgesamt?“
„ Genau vierzig.“
„ Richtig. Ich will, dass du jedes Fenster anschaust, jedes einzelne. Dein Blick soll nicht darüber hinweg schweifen. Schau hinein. Es werden Menschen heraus sehen und winken, das wird dich ablenken. Aber umso auffälliger wird es sein, wenn nur eine einzelne Person dort steht.“
„ Ich weiß, Rheys“, sagte sie ein wenig spitz. „Du erklärst es mir zum hundertsten Mal.“
Sie schaute über die Häuserfronten hinweg und ganz plötzlich schossen ihr Bilder von der Kennedy-Ermordung durch den Kopf, die sie schon so oft im Fernsehen gesehen hatte. Ihr wurde ein wenig übel, wie immer, wenn sie so ganz plötzlich in ihre eigene Welt zurück gerissen wurde. Manchmal lösten Kleinigkeiten eine Erinnerung in ihr aus, die ihr dann mit voller Wucht aufzeigte, wie falsch und verrückt das alles war, was sie hier tat. Ihr wurde schwindelig und sie verlor für einige Momente den Bezug zur Wirklichkeit. War das alles wirklich echt oder träumte sie? Rheys spürte ihre Unsicherheit und selbst der starke Griff seiner Hand an ihrem Arm konnte die Benommenheit nicht auslöschen. Er zog sie an den Straßenrand, wo Jessy sich gegen die Hausmauer lehnte. Er runzelte die Stirn.
„ Du kannst das, Jessy. Hör auf, daran zu zweifeln.“
Sie nickte. „Schon in Ordnung. Es ist nicht so, dass ich es mir nicht zutraue. Ich werde die Fenster zählen und ich werde alles so machen, wie ihr es mir beigebracht habt. Aber manchmal habe ich Angst, dass mich meine Nerven im Stich lassen. Bei euch ist das anders. Euch bringt nichts aus der Ruhe.“
„ Wenn es soweit ist, wirst du die Nervosität ablegen“, meinte er. Jessy konnte daran noch nicht ganz glauben..
„ Und da ist noch etwas“, sagte sie. „Was, wenn ich die Gefahr nicht gleich erkenne? Wenn ich sie nicht spüre? Ich glaube nicht, dass man das lernen kann.“
„ Gut, dass du es ansprichst“, sagte Rheys und sein Gesicht wurde von dem seltenen Lächeln erhellt, das seine Augen so verführerisch aufleuchten ließ. „Ich hoffe, du bist nicht zu müde. Wir gehen in den Keller.“
Jessy schluckte mühsam gegen die Trockenheit in ihrer Kehle an. Obwohl die Luft kalt und feucht war, schwitzte sie und umfasste den hölzernen Griff ihrer Waffe fester. Ihr eigener Atem klang überlaut in ihren Ohren. Die Dunkelheit um sie herum war erdrückend. Sie wusste, dass sie in einem weiten Gewölbe stand und dass die Decken hoch waren. Und doch fühlte sie sich wie in einer winzigen Kammer eingesperrt. Das lag nur daran, dass sie überhaupt nichts sehen konnte. Rheys hatte die Fackel gelöscht, für einen Moment hatten Lichtpunkte vor ihren Augen getanzt und nun war sie völlig blind. Rheys hatte die Tür hinter sich geschlossen, aber sie war nicht allein.
„ Warte einen Augenblick“, sagte Rojan leise. „Du wirst gleich etwas sehen.“
Seine ruhige Stimme nahm ihr etwas von ihrer Aufregung, sie wirkte beinahe hypnotisch. Wie ein Rettungsanker im Nichts. Also wartete sie und tatsächlich schälten sich Umrisse aus der Dunkelheit. Sie konnte zumindest erahnen, wo die Stützpfeiler waren.
„ Sag mir, was du siehst“, sagte Rojan. Sie war sich völlig sicher, dass er im Dunkeln sehen konnte wie eine Eule und deshalb war er auch genau der Richtige für diese Aufgabe. Hier unten wollte Rheys sie „ihre Instinkte spüren lassen“, wie er es nannte. Die leer stehenden Kellergewölbe unter der Eisenfaust eigneten sich perfekt, denn sie lagen tief unter der Erde und keine Geräusche oder Gerüche drangen bis hierher.
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