„ Heute habe ich über den Birkenhain geschrieben. Erinnerst du dich?“ fragte er. Ami senkte den Blick, ihre langen Wimpern warfen Schatten auf die hellen Wangen. Sie wusste genau, worauf er anspielte.
„ Ja, ich erinnere mich. Es war sehr schön. Ein verzauberter Ort.“ Sie seufzte. „Was gäbe ich darum, noch einmal dort sein zu können.“
„ Dann gehen wir wieder dorthin“, sagte Albin leichthin.
„ Ach Unsinn“, antwortete sie. „Wie sollte das den gehen?“
„ Es ist mein Ernst! Wenn du Königin bist, reisen wir dorthin. Einfach so, ohne vor irgendetwas zu fliehen.“
Amileehna lachte. „Das sagst du doch nur, um mich aufzuheitern. Du weißt selbst, dass es unmöglich ist. Ich habe dann viel zu viele Aufgaben und kann nicht einfach so durch die Gegend reiten. Trotzdem würde ich es gerne noch einmal sehen.“
„ Ich nicht“, sagte Albin. Die ganze Zeit über hatte er ihre Hand gehalten und ein Großteil seines Denkens konzentrierte sich auf diese winzige Berührung zwischen ihnen. Er streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Für mich ist jeder Ort verzaubert, an dem du bist.“
Hatte er das wirklich gesagt? Seine Kehle war ausgetrocknet. Amileehna schaute auf, das Licht ließ ihre Augen riesengroß und unendlich tief erscheinen.
„ Ach, Albin“, murmelte sie. „Sag doch solche Dinge nicht.“
Er drückte ihre Hand noch fester, sagte aber nichts mehr. Sie in Verlegenheit zu bringen war nicht seine Absicht. In Wahrheit wusste er nichts über ihre Gefühle und ob sie in ihm mehr sah, als nur einen Freund. Und er hätte es niemals gewagt, sie zu bedrängen. Trotzdem spürte er, dass sie unruhig geworden war und ihre Finger von seinen löste.
„ Ich muss jetzt gehen“, sagte sie traurig.
Albin half ihr auf die Füße und ging ein paar Schritte mit ihr in Richtung der Tür. Sie schlug die Kapuze über ihr verräterisch helles Haar.
„ Gute Nacht“, sagte er.
Amileehna zögerte einen Moment und schien hin und her gerissen zu sein. Dann gab sie ihm einen schnellen Kuss auf die Wange und huschte durch die Tür ins Innere der Burg. Albin blieb reglos zurück. Die Berührung ihrer Lippen brannte auf seiner Haut. Und doch erfüllte ihn wieder jene trostlose Leere, die er immer empfand, wenn sie ging.
Seufzend wandte er sich zur Mauer und stützte sich auf den Ellbogen ab. Unter ihm lag Ovesta, hell erleuchtet aus Tausenden von Fenstern. Weit in der Ferne sah er die nachtschwarzen Fluten des Alten Mannes, der die Stadt mit dem Meer im Westen verband. Das Wasser glitzerte im Schein der Sterne. Eine kalte Brise trug die Geräusche der Burg und den Geruch aus der Küche zu ihm heran. Lange Jahre hatte er sich nach nichts mehr gesehnt, als diesen Ort zu verlassen. Dann hatte ihn das Schicksal an die entlegensten Orte geführt und ihn jedes nur erdenkliche Abenteuer erleben lassen. Und nun war die Eisenfaust mehr denn je sein Zuhause, wo er sich wohl fühlte. Es schien ihm, dass er alles hier erst hatte verlassen müssen um seinen wahren Platz zu erkennen. Hier bei Amileehna zu sein und ihr zu helfen war richtig und wenn es der ganze Sinn seines Daseins sein sollte, war er damit mehr als zufrieden. Doch manchmal spürte er Rastlosigkeit. Dann blickte er wie jetzt über das weite Land hinweg und fragte sich, ob es nicht noch mehr dort draußen gab, das er sehen und erforschen musste. Vielleicht existierte noch eine andere Aufgabe für ihn, irgendwo hinter dem Horizont, in einer Welt, die er sich nicht einmal im Ansatz vorstellen konnte. Er hatte bereits so viel Unglaubliches gesehen und dennoch hatte er manchmal das Gefühl, dass das noch nicht alles war. Dass etwas auf ihn wartete. Nicht nur um Amileehna zu trösten erzählte er ihr die schönen Lügen von gemeinsamen Reisen, wenn sie einst Königin war. Es zog ihn fort. Doch das bedeutete, Amileehna zu verlassen.
Es war spät geworden und Albin wurde allmählich müde. Er stieg die schmalen Treppen im Inneren der Mauer hinunter und ging über den Hof zum Prinzenbau. Die Große Halle leerte sich langsam und viele Menschen spazierten im Fackelschein umher auf dem Weg in ihre Schlafräume. Doch im Prinzenbau herrschte Ruhe. Gedankenverloren wanderte Albin durch die Gänge, als er plötzlich die Stimme einer Frau hörte. Erschrocken über das Geräusch blieb er stehen. Doch der Gang vor ihm war menschenleer und auch hinter sich sah er niemanden. Hatte er sich womöglich nur eingebildet, jemanden sprechen zu hören? Er schauderte und wollte mit hochgezogenen Schultern weitergehen. Doch erneut erklang die Stimme direkt in seinen Gedanken. Er konnte keine Worte verstehen, doch er hörte an ihrem Klang die verschiedensten Gefühle. Wer auch immer da sprach, war voller Sorgen und Ängste. Verwirrt drehte Albin sich um die eigene Achse.
„ Wer ist da?“ rief er. Seine Stimme hallte von den Steinwänden wieder.
Zuerst kam keine Antwort. Dann öffnete sich plötzlich weiter vorne in dem langen Gang eine Tür und ein Dienstmädchen kam heraus. Sie trug einen Korb über dem Arm und senkte sofort demütig den Blick, als sie Albin sah. Dann eilte sie an ihm vorbei. Ihre Lippen bewegten sich nicht, doch ihr Gesicht spiegelte jene Verzweiflung wider, die Albin gespürt hatte.
„ Was wenn er mich nicht liebt? Wenn er nur mit mir spielt? Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll…“
Albin wich an die Wand zurück. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Während die Schritte des Mädchens verhallten, stolperte er zu seinem Zimmer, flüchtete hinein und schob den Riegel vor, als könne er damit aussperren, was er befürchtete.
Man kann die Gedanken eines anderen Menschen nicht hören! Es ist einfach nicht möglich!
Doch es war möglich und obwohl es Albin noch nie zuvor passiert war, wusste er, dass es stimmte. Denn es passte zu all den anderen Dingen, die geschahen. Irgendetwas an ihm veränderte sich. Manchmal konnte er Dinge sehen, die viel zu weit entfernt für seine Augen waren. Ganz plötzlich trafen ihn Gerüche oder Geräusche wie Blitzschläge, denn sie waren viel zu intensiv für seine Sinne. Er hörte das Kratzen der Fledermäuse im uralten Gebälk des Bergfrieds - wenn er unten im Hof stand. Er roch die verwesende Maus, die eine Katze im Keller des Prinzenbaus vergessen hatte - von seinem Zimmer aus. Er sah die großen kreisrunden Augen einer Eule im Mondlicht schimmern, die hunderte Meter entfernt am Waldrand in einer Tanne saß. Jedes Mal, wenn es geschah, war Albin wie gelähmt von der Empfindung. Anfangs war es ihm gelungen, so zu tun, als wäre es nur ein Traum oder eine Einbildung gewesen. Es erfüllte ihn mit ohnmächtigem Schrecken, denn er hatte keinerlei Einfluss darauf und fühlte sich erschöpft und zerschlagen, wenn die seltsamen Eindrücke wieder von ihm wichen. Es schien, dass seine Sinne schärfer wurden, je mehr er seinen Körper stärkte. Warum sein Geist plötzlich dazu in der Lage war, all diese unmöglichen Dinge zu erfassen - dafür hatte Albin auch in der Bibliothek keine Erklärung gefunden. Denn er ging nicht nur so oft dorthin um sein Buch zu schreiben. Er suchte auch in den alten Schriften nach irgendwelchen Hinweisen. War es womöglich eine Krankheit, die ihn heimsuchte? Bisher hatte er mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Jessy. Und nun, da er offenbar sogar in der Lage war, die Gedanken anderer zu hören, war er froh darüber. Ein solches Geheimnis war gefährlich und konnte ihm mächtige Schwierigkeiten bereiten. Die Menschen sahen in ihm sowieso schon einen Außenseiter, dem man nicht trauen konnte. Solange er diese seltsamen Schübe jedoch in keiner Weise kontrollieren konnte, würde er damit sicher keinen Schaden anrichten.
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