Die Holzfigur hatte den Umfang eines kräftigen Mannes und thronte auf einem weiteren hölzernen Aufbau, der ein Pferd darstellen sollte. Aufgabe war es, den Gegner mit einem gezielten Schwertschlag vom Rücken seines Reittiers zu stoßen. Der hölzerne Krieger war jedoch mit starken Seilen an seinem Pferd befestigt, sodass man ihn mit größter Wucht treffen musste. Bosco hatte seinen Schülern demonstriert, dass es möglich war, ihn herunter zu stoßen. Doch Albin selbst hatte nach den ersten Versuchen das Gefühl, dass sein Arm schwach wie ein Strohhalm war. Mehrmals hatte er sein Schwert verloren und seine Schulter schmerzte entsetzlich. Aber wenigstens war er nicht aus dem Sattel gestürzt, wie einige andere. Nun betrachtete er seinen leblosen Feind aus zusammen gekniffenen Augen und versuchte, ihn mit reiner Willenskraft zum Fallen zu bringen. Jedes Mal, wenn einer der Jungen scheiterte, bedachte Bosco ihn mit Beleidigungen und schien sich dabei prächtig zu unterhalten.
„ Nächster!“ brüllte er nun und Albin richtete sich im Sattel auf. Arro reagierte auf die kleinsten Hilfen und wenn der Hengst aus dem Stand angaloppierte, hob die Schwungkraft Albin fast aus dem Sattel. Auch jetzt preschte er vorwärts und Albin umklammerte sein Schwert, obwohl seine Finger von den Schlägen bereits taub waren. Doch jetzt ließ er die Klinge sinken und anstatt sie mit voller Kraft gegen den Leib der Puppe zu schleudern, durchtrennte er die Seile, mit denen sie an dem Holzpferd befestigt war. Der Körper kippte zur Seite und landete polternd auf der Erde.
Albin stieß einen triumphierenden Schrei aus und brachte Arro zum Stehen. Er lächelte Bosco zu. Dieser nickte.
„ Gut gemacht.“
„ Das gilt nicht!“ rief einer der Jungen aus der Reihe. „Das war nicht die Aufgabe!“
„ Aufgabe war es, die Attrappe aus dem Sattel zu werfen“, rief Bosco. „Wäre das ein echter Mensch, würde er jetzt verblutend auf dem Boden liegen, nachdem Albin seinen Oberschenkel in Scheiben geschnitten hat. Ich würde sagen, das reicht.“
Die Jungen murrten, beschwerten sich aber nicht mehr. Am Ende zählte bei all ihren Übungen nur eines. Der Gegner musste wehrlos am Boden liegen. Schwer verletzt oder tot - zumindest durfte er keine Gefahr mehr darstellen. Obwohl Albin allen anderen Schülern im Kriegerlager voraus hatte, dass er bereits in echte Schlachten geritten war, musste er noch viel lernen. Jeder Junge in Westland kam nach Ovesta um das Handwerk des Kämpfens zu erlernen, falls einmal Krieg ausbrechen sollte. So war auch Albin dazu verpflichtet gewesen, ein paar Monate im Lager zu leben und zu lernen. Damals war es eine reine Qual für ihn. Er war schwach, schüchtern und ängstlich und hatte gleichermaßen unter den anstrengenden und oft schmerzhaften Übungen wie unter dem Spott der anderen jungen Männer gelitten. Heute schien ihm das eine Ewigkeit her zu sein. Er kam nun wieder freiwillig hierher um sich weiter ausbilden zu lassen. Und mittlerweile war er einer der besten und angesehensten Schüler.
„ Kann ich es mit einer Axt versuchen?“ fragte er nun. Bosco kniff die Augen zusammen.
„ Werd nicht übermütig, du halbe Portion“, sagte er. „Wenn du versuchst, eine Streitaxt mit voller Wucht zu schwingen, schleuderst du dich selbst aus dem Sattel. Dafür braucht man eine ganz andere Statur.“
„ Dann warte ich noch ein paar Monate“, sagte Albin.
„ Ich sage dir etwas“, meinte Bosco. „Wenn du diesen hölzernen Burschen hier auf deiner Schulter bis hinauf in den Stall tragen kannst, dann lasse ich dich mit einer Axt kämpfen.“
Albin zog eine Grimasse. Dieser Tag würde wahrscheinlich niemals kommen. Zum Aufstellen der Figur waren zwei starke Männer notwendig gewesen.
„ Sehr witzig.“
„ Tja, so bin ich. Hilf mir jetzt, das Ding wieder aufzubauen, damit die anderen dir dieses Kunststückchen nachmachen können.“
Als Albin später sein Pferd in den Stall brachte, zitterten seine Arme vor Anstrengung, aber er fühlte sich gut. Es war Nachmittag und er würde noch ein wenig an seinem Buch arbeiten, bevor es Zeit zum Essen war. Als er Arro durch die Stallgasse führte, sah er schon von Weitem eine weibliche Gestalt. Sein Herz klopfte schneller. Es war Astri, die dort auf ihn wartete, Amileehnas Zofe.
„ Guten Tag, Herr Albin“, sagte sie höflich, doch er sah das verschmitzte Lächeln auf ihrem Gesicht. Arro schnaubte und schubste seinen Reiter, der stehen geblieben war, von hinten mit dem großen Kopf an. Er wusste, dass sein Futter auf ihn wartete und duldete keine Verzögerungen.
„ Große Mutter“, sagte Astri und wich ein wenig zurück. „Wie könnt Ihr nur auf diesem Ungeheuer reiten?“
Albin war zu atemlos vor Aufregung, um ihr eine Antwort zu geben. Er schaute sich nach allen Seiten um, doch niemand war da, der sie hätte belauschen können.
„ Was treibt dich hier in die Ställe, Astri?“ fragte er. Nun lächelte sie noch breiter.
„ Es ist ein schöner, klarer Tag“, sagte sie dann und beugte sich ein wenig vor. „Sicher kann man heute Abend nach dem Essen die Sterne sehen. Was meint Ihr?“
„ Das mag wohl sein“, antwortete Albin.
„ Der Wehrgang wäre wohl ein guter Platz dafür. Um die Sterne zu sehen, meine ich.“
Albin schluckte. „Das ist der beste Platz.“
„ Fein. Dann werde ich das versuchen. Nach dem Abendessen“, wiederholte sie und nickte Albin vielsagend zu. Dann spazierte sie davon und Albin verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an sein Buch.
Die Minuten schienen sich wie Stunden auszudehnen, während er wartete. Die Sterne waren tatsächlich zu sehen und glitzerten über ihm wie Diamanten auf einem schwarzen Tuch. Es war ziemlich dunkel, denn der Mond war nur eine schmale Sichel und auf dem Wehrgang brannten nur wenige Fackeln, die den Wachen ihren Weg erhellten. Albins Herz schlug laut und heftig gegen seinen Brustkorb. Beim Abendessen hatte er kaum einen Bissen herunter bekommen, doch er verspürte keinen Hunger. Als plötzlich eine Tür aufging und ein heller Lichtschein auf die Steinquader fiel, schnappte er nach Luft und richtete sich auf. Ihre Schritte waren kaum zu hören und sie trug einen weiten dunklen Umhang. Beinahe hatte sie ihn erreicht und Albin sah die einzelnen Haarsträhnen unter dem Saum der Kapuze, die im schwachen Licht wie flüssiges Gold schimmerten. Er kam auf sie zu und wollte etwas sagen, doch sie stürzte ihm entgegen und schlang die Arme um seinen Hals. Albins Herz drohte zu explodieren. Heiße und kalte Schauer rannen über seine Haut. Sie duftete so gut.
„ Danke, dass du gekommen bist“, sagte sie leise und er spürte ihren Atem an seinem Hals. Dann löste sie sich von ihm und schien sich zu sammeln.
„ Wie geht es dir, Ami?“ fragte er und forschte in ihrem Gesicht, obwohl es ihn alle Mühe kostete, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sie lächelte ein wenig.
„ Es geht mir gut. Jetzt, wo wir uns endlich sprechen können“, sagte sie. „Danke für den Schmetterling.“
„ Gern geschehen“, sagte Albin heiser. Er nahm ihre Hand, die so klein und zart in seiner war und zog sie in den Schatten der Mauer, wo die Wachen sie nicht sehen würden. „Jessy sagte mir, du hattest Streit mit deiner Mutter?“
„ Ich will nicht darüber reden“, sagte Ami. „Erzähl mir lieber etwas von euch. Wie geht es allen? Und wie kommst du mit deinen Aufzeichnungen voran?“
Albin begann zu erzählen was sich in der letzten Zeit im Bergfried und im Kriegerlager zugetragen hatte. Ab und zu lachte Ami leise. Er beobachtete ihr Gesicht und versuchte, sich jede Einzelheit einzuprägen. Diese heimlichen Treffen gab es nur sehr selten und Ami ging ein hohes Risiko ein, sich davon zu schleichen. Außerdem brachte sie Albin in Gefahr. Aber manchmal schien ihre Einsamkeit so übermächtig zu werden, dass sie alle Bedenken beiseite schob. Das war Albin nur recht. Er hätte sich jeden Tag mit ihr getroffen, Gefahr hin oder her.
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