Mit zitternden Fingern schenkte er sich einen Becher Wasser ein und führte ihn an die Lippen. Er fühlte sich wie ein Eindringling, weil er die intimen Gedanken des Mädchens belauscht hatte - auch wenn es gar nicht seine Absicht gewesen war. Am liebsten hätte er alles sofort vergessen. Doch das war unmöglich, denn so erschreckend all diese Veränderungen auch waren, sie machten ihn neugierig. Wie gerne hätte er mit jemandem darüber gesprochen, der weise und klug war. Meister Leoniss zum Beispiel, dem Oberhaupt der ostländischen Magier. Sicher hätte er Antworten gekannt oder zumindest einen Ratschlag für ihn gehabt. Doch Albin hatte keine Ahnung, ob ein Brief die Zitadelle im Ostland jemals erreichen würde und wie lange das dauerte. Womöglich blieb ihm doch nichts anderes übrig, als eine Reise zu machen…
Das Scheppern der beiden blechernen Topfdeckel, die Lando in unregelmäßigem Rhythmus gegeneinander schlug, hallte durch das gesamte Kriegerlager. Es hatte bereits unzählige Zuschauer angelockt, als Albin den Reitplatz erreichte und schnell war auch er seltsam gefesselt von der Darbietung. Er kannte diese Übung zu gut. Lando stand in der Mitte des Platzes und tat sein Möglichstes, die schwarze Stute zu erschrecken. Währenddessen war es die Aufgabe der Reiterin, Kontakt zu dem Tier zu halten. Jessys Blick war hochkonzentriert und nach innen gerichtet. Sicher hatte sie die vielen Augen gar nicht bemerkt, die sie beobachteten. Die Stute schnaubte und tänzelte, Schaum tropfte von ihrem Maul in den Sand. Doch auch ihr sah man an, dass sie versuchte, auf die Zeichen ihrer Reiterin zu achten und sich nicht von der angeborenen Panik überwältigen zu lassen. Albin beobachtete, wie Jessy die Lippen bewegte, konnte aber nicht hören, was sie sagte. Sie hielt die Zügel straff und saß aufrecht. Sie durfte in ihrer Entschlossenheit, das Pferd zu kontrollieren keine Sekunde lang wanken, sonst würde die Stute sicher durchgehen.
Lando verstärkte seine Bemühungen, das Paar aus der Fassung zu bringen, indem er anfing zu brüllen und einen Stock durch die Luft kreisen zu lassen. Die Stute wich zurück und warf den Kopf hoch. Jessy verlagerte ihr Gewicht und zog ihr Schwert. Das Pferd musste sich auch daran gewöhnen, wie ihre Reiterin sich verhielt, wenn sie kämpfte. Die Klinge blitzte im Sonnenlicht und nun wusste das Tier plötzlich nicht mehr, in welcher Richtung es den Feind vermuten sollte. Lando traf es beinahe mit seiner stumpfen Waffe am Hals und sah, dass er dabei war, eine wichtige Grenze zu überschreiten. Die Stute rollte die Augen und begann, sich gegen das Gebiss zu sträuben. Der Stallmeister warf den Stock zu Boden und wich zurück. Er gab Jessy eine Anweisung und sie ließ die Stute antraben und ein paar entspannte Runden um den Platz drehen. Pferd und Reiterin wirkten sichtlich gelöst, als sie schließlich anhielten. Lando strich der Stute über den Hals und redete mit eindringlichem Blick auf Jessy ein, die ihm gebannt zuhörte. Dann war die Übungsstunde beendet.
Jessy stieg aus dem Sattel und kam auf Albin zu. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß, doch sie lächelte.
„ Es geht ganz gut, nicht wahr?“ meinte Albin, als sie nahe genug heran gekommen war. Sie nickte.
„ Ja, ich glaube, er ist halbwegs zufrieden. Ich hätte nie gedacht, dass es so sein würde.“ Zärtlich strich sie dem Pferd über die Stirn. „Jetzt verstehe ich die Verbindung, die die Wölfe zu ihren Pferden haben.“
Sie wandten dem Kriegerlager den Rücken zu und gingen nebeneinander den Weg hinauf zur Burg. Es war ein sonniger Tag, aber eine kühle Brise trieb hellgraue Wolkenberge über den Himmel, die Regen bringen würden.
„ Was gibt es Neues?“ fragte Jessy. Sie schien immer zu ahnen, wenn ihm etwas auf dem Herzen lag. Für einen Moment überkam Albin wieder das Bedürfnis, sich ihr anzuvertrauen und über die Dinge zu sprechen, die mit ihm passierten. Sie war seine beste Freundin und kannte all seine Geheimnisse. Sie hatte ihn niemals verraten und würde ihn auch jetzt nicht im Stich lassen. Und trotzdem hielt ihn etwas zurück. Immerhin bestand die Gefahr, dass sie Rheys davon erzählte. Rheys legte immer Wert auf Ehrlichkeit aber noch mehr bedeutete ihm die Sicherheit von Amileehna und dem König. Wenn er eine Gefahr für sie witterte - und sei sie auch noch so klein - zögerte er nicht, sie auszumerzen.
„ Beunruhigende Nachrichten aus Südland“, sagte Albin. Während er Jessy von seinem Gespräch mit Fabesto berichtete, verlangsamten sie ihren Schritt und setzten sich schließlich am Wegesrand nieder. Gemma begann zu grasen, während Albin die Situation erklärte. Wie immer lauschte Jessy ihm aufmerksam, während sie einzelne Grashalme ausrupfte. Ihre Hände waren schmutzig und unter den aufgekrempelten Ärmeln sah er, dass ihre Unterarme bereits von der Sonne gebräunt waren. Auch die Sommersprossen auf ihrer Nase, die im Winter fast verblasst waren, traten jetzt wieder hervor. Das lange dunkelbraune Haar hatte sie wie immer zurück gebunden, doch während des Reitens hatten sich einzelne Strähnen gelöst und umrahmten ihr Gesicht. Sie war dünner geworden während des Winters und das mochte auch an dem Kummer liegen, der sie so sehr gequält hatte. Wie alle anderen hatte Albin versucht, ihr zu helfen und hatte doch warten müssen, bis die Wunden von selbst heilten. Im Nachhinein fand er es nur natürlich, dass sie irgendwann das Heimweh einholen musste. Immerhin war sie abgeschnitten von allen Menschen, die sie liebte. Trotzdem fand sie sich hier in Westland zurecht, obwohl alles, was sie erlebt hatte, die Grenzen ihres Verstandes überstieg. Die Welt aus der sie kam war völlig anders und doch bewegte sie sich mittlerweile in der Eisenfaust, als habe sie nie irgendwo anders gelebt. Er bewunderte sie immer für ihre Stärke. Schon oft hatte er den Gedanken gehabt, fortzugehen und ein neues Leben anzufangen. Jessy hatte das getan - wenn auch unfreiwillig. Und bis auf jene finsteren Wochen hatte sie noch keinen Moment lang mit ihrem Schicksal gehadert. Zumindest nicht nach außen hin. Jetzt wirkte sie erschöpft von ihrer Übungsstunde, aber auch lebendig und fröhlich. Es freute ihn, sie so zu sehen.
„ Fabesto wird also um eine Audienz ersuchen und dem König alles berichten“, endete Albin. „Es ist besser, mit ihm unter vier Augen darüber zu sprechen, als die Sache im Kronrat vorzubringen.“
„ Zu viele Geschäftemacher unter den werten Räten, ich weiß“, antwortete Jessy nickend. „Wird der König diese Neuigkeiten auch verkraften? In letzter Zeit wirkt er so, als kippe er in Kürze aus den Schuhen.“
Albin schmunzelte. Er wusste, dass sie nur mit ihm so daher redete und es niemals wagen würde, sich derart respektlos zu äußern, wenn sie jemand hören konnte.
„ Du hast recht, er ist ziemlich angeschlagen“, stimmte er ihr zu. „Alle munkeln darüber und beobachten jeden seiner Schritte.“
„ Was passiert, wenn er nicht mehr regieren kann? Kann er den Platz für Amileehna frei machen?“ fragte Jessy.
„ Das könnte er, aber ich denke, er weiß selbst, dass das keine gute Idee ist“, meinte Albin. „Alle sehen, dass sie noch nicht soweit ist, den Thron zu besteigen. Sollte sie die Regierungsgeschäfte übernehmen, weil er es nicht mehr kann, wird das nur eine Formalie sein und in Wahrheit übernimmt der Kronrat alle Befugnisse.“
„ Also hat sie erst freie Hand, wenn sie offiziell die Königin ist.“
„ So ist es. Lass uns also hoffen, dass der König noch eine Weile in seinen Schuhen stehen bleibt.“
Jessy rieb sich mit der flachen Hand über die Stirn.
„ Dieser verrückte Futush… Was kann er nur wollen? Oder anders gesagt: Was wollen seine Magier?“ Jessy schauderte. Die Magier am Hof von Fürst Futush hatten sie mit einem Zauber belegt um sie in Samatuska zu halten. Diese schreckliche Erfahrung würde sie sicher niemals vergessen.
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