Wieder sah er die Bewegung im Licht seiner Lampe und diesmal erkannte er, was es war. Seine Finger umschlossen den schmalen Schalter an der Wand. Er schob den Schalter hoch. Die schwere Taschenlampe entwand sich seinen feuchten, zitternden Händen und fiel klappernd zu Boden. Das laute Geräusch des Aufpralls hallte nervzerreißend durch den großen Raum. Corleones Hand griff nach der Smith&Wesson, seine Finger schlossen sich um den Holzgriff. Doch statt des erlösenden Lichtscheines hörte er nur ein Klicken. Die Taschenlampe lag vor ihm auf dem Boden und erhellte den Raum bis auf Tischhöhe. Der Wachmann atmete heftig und schwitzte stark. Sein Revolver hakte im Halfter, er konnte ihn nicht herausziehen. Dann hörte er das anlaufende Luftreinigungsgebläse und wusste, welchen Schalter er betätigt hatte.
Der verdammte Revolver rührte sich nicht.
Dann sah Corleone die schwarzen Kampfstiefel, die langsam den Schein der Lampe durchquerten. Der alte Mann erstarrte augenblicklich. Das machte es für Bruce Dobbs, der einen Meter neben ihm stand und ihn durch seine Nachtsichtbrille beobachtete, wesentlich leichter.
Das Knacken, als das Genick von Willy Corleone wie ein Streichholz zerbrach, war trotz der lauten Ventilationsgeräusche des Gebläses deutlich zu hören.
„Ist er tot?“, fragte Corporal Lavinski, der neben Dobbs auf dem hellblauen Linoleumbelag kniete und in die starren Pupillen des grauhaarigen Mannes sah, der zusammengekrümmt vor ihnen lag.
Dobbs sah Lavinski nur missgelaunt an und ersparte sich jeglichen Kommentar zu diesem ungeplanten und verdammt ärgerlichen Zwischenfall.
„Bist du fertig, Lavinski?,“ flüsterte er nur, während er die Leiche näher untersuchte.
„Ich hab’ die gefragte Datei gerade eben kopiert, als der Mistkerl aufgetaucht ist.“
„Ist alles gesichert, kann nichts daneben gegangen sein?“, fragte Sergeant Dobbs und sah dabei Lavinski durchdringend an.
„Alles klar, Sarge. Ist alles hier drin.“
Lavinski tätschelte liebevoll seinen Palmtop-Computer, dann verstaute er ihn in seiner Sporttasche. Im Schein der Lampe des Nachtwächters sah Dobbs sich kurz noch einmal um. Er konnte keine Spuren ihrer Anwesenheit entdecken, fragte aber noch einmal Lavinski.
„Sind alle Spuren unseres Eindringens in das Netzwerk verwischt?“
Lavinski nickte im grellen Schein der Stablampe des Nachtwächters. „Ich habe das neue Intruderprogramm benutzt, Sarge. Da gibt es keine Spuren.“
Dobbs nickte. Dann drehte er sich um und beleuchtete die Wand neben der Tür. Er fand den Schalter, den der Wachmann betätigt hatte und stellte ihn aus. Das Surren des Gebläses verstummte, als sich die Ventilatoren nicht mehr drehten.
„Was machen wir mit ihm?“ flüsterte Lavinski und deutete auf die verkrümmte Gestalt am Boden. Er beobachtete Dobbs, wie er die Taschen des Mannes durchsuchte und schließlich einen Schlüsselbund in Händen hielt.
Als Dobbs den Mann am Kragen packte, ihn scheinbar mühelos hochhob und ihn sich über die breiten Schultern warf, kannte Lavinski die Antwort. Der Kopf des Mannes baumelte seltsam und anatomisch höchst bedenklich hin und her, als Dobbs mit raschen Schritten zur Tür marschierte. Dobbs warf Lavinski die Schlüssel zu.
„Schau nach, ob er irgendwas verloren hat, Lavinski“ flüsterte Dobbs. „Und dann schließ die Tür hinter uns ab.“
Lavinski nahm die Schlüssel und die Taschenlampe und leuchtete auf den klinisch sauberen Boden. Etwa eine halbe Minute lang, die Dobbs wie eine halbe Ewigkeit vorkam, untersuchte der Corporal systematisch die hellblaue Fläche, wo die Leiche des Mannes gelegen hatte. Dann suchte er den Weg bis zur Tür ab und fand nichts.
„Alles klar, Sarge.“
Dobbs nickte und bedeutete Lavinski, er solle voran gehen. Der Corporal schaltete die Stabtaschenlampe aus, schob sich an seinem massigen Sergeant vorbei und horchte an der Tür. Als er nichts hörte, öffnete er sie vorsichtig und spähte hinaus.
Vier Minuten später kniete sich Dobbs schwer atmend im Schutz der Brüstung nieder. Sein Atem kondensierte in der frischen Nachtluft, sein breiter Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Die Leiche des Nachtwächters lag vor ihm auf den schwarzen Bitumenbahnen. Lavinski kontrollierte erneut Sitz und Festigkeit des Bolzens.
Nach einer knappen Minute war Dobbs wieder voll bei Kräften und stand auf. Er erklärte Lavinski kurz, was er vorhatte, dann schwang er sich über die Brüstung. Einige Augenblicke lang checkte er die Straße und das gegenüberliegende Flachdach, dann klickte er seinen Karabiner ein und schwang sich über den Abgrund. Aus Lavinkis Rucksack hatte er ein grünes Nylonseil geholt, das er hinter der Brüstung fein säuberlich aufgelegt hatte und nun hinter sich herzog. Als er auf der anderen Seite angekommen war, klinkte er sich aus und gab Lavinski das vereinbarte Zeichen. Der Corporal hatte inzwischen die Leiche des Wachmannes fachmännisch zusammengeknotet und mit einem Karabiner an das Stahlseil gehängt. Noch einmal kontrollierte er, ob der Mann nichts verlieren konnte, nachdem er ihm bereits die Mütze und alle losen Teile, die er in seinen Taschen gehabt hatte, abgenommen und sicher in seinem Rucksack verstaut hatte. Als er Dobbs Zeichen sah, knotete er das Nylonseil an die Leiche und wuchtete sie anschließend über die Brüstung. Auf der Straße fuhr langsam ein Wagen vorbei, hielt aber nicht an. Lavinski wartete kurz, bis der Wagen verschwunden war, dann schubste er die Leiche vorwärts. Ein paar Meter rutschte die Last, dann blieb der tote Nachtwächter leicht schaukelnd hängen. Auf der anderen Straßenseite packte Sergeant Dobbs das Nylonseil mit beiden Händen und begann, kraftvoll daran zu ziehen. Seine dicken Armmuskeln arbeiteten unablässig, und Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Nach zwei Minuten musste er kurz verschnaufen, dann zog er weiter. Als er die Leiche dann über die Brüstung hievte und sie in den Kies zerrte, war er einigermaßen geschafft. Er erholte sich nicht mehr so schnell wie früher, stellte er betrübt fest, doch es genügte noch immer.
Als er wieder bei Kräften war, tauchte der Schatten Corporal Lavinskis über ihm auf, als sich dieser über die Brüstung schob. Der Corporal zog ebenfalls ein grünes Nylonseil hinter sich her, das auf der anderen Seite der Straße mit dem Spezialbolzen verbunden war. Dobbs beobachtete Lavinski, wie dieser noch einmal über die Brüstung spähte und die Straße überblickte. Nach wenigen Sekunden schob Lavinski seinen rechten Jackenärmel hoch und legte den Sender für den Bolzen frei. Das kleine grüne LED für den optimalen Sitz des Bolzens leuchtete noch immer. Lavinski sah Dobbs an, kontrollierte, ob dieser das Nylonseil, das Lavinski hinter sich hergezogen hatte auch sicher in seinen Händen hielt, dann drückte er einen kleinen Knopf auf dem Sender. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hörten sie ein Geräusch, das so klang, als ob ein Stein zerbrach, gebrochen durch einen metallischen Gegenstand. Die winzige Sprengladung in der Spitze des Bolzens hatte gezündet und den Anker aus seinem sicheren Sitz im Beton befreit. Das Nylonseil, das Dobbs in seinen Händen hielt, und das auf dem gegenüberliegenden Dach um einen Lüftungsschacht gewickelt war, hinderte den Bolzen daran, über die Brüstung zu rutschen und gegen die Fassade des Hauses zu krachen, auf dem die beiden Männer sich jetzt gerade befanden.
Lavinski befestigte das Nylonseil, mit dem sie die Leiche über die Straße gezogen hatten an dem Ende des Stahlseiles, das er soeben aus seiner Verankerung entfernt hatte. Dann zog er gleichmäßig, während Dobbs gleichzeitig sein Nylonseil über die Brüstung verschwinden ließ. Der schwere Anker und das Stahlseil wanderten nun langsam über die Straße zurück, ohne einen Laut zu verursachen. Als Lavinski den Anker dann in Händen hielt und ihn in seiner Tasche verstaute, hatte Dobbs noch etwa fünf Meter Nylonseil übrig. Lavinski hielt nun das eine, Dobbs das andere Ende des Nylonseils, das auf dem gegenüberliegenden Dach um einen Lüftungsschacht führte.
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