„Um Gottes Willen, was hast du denn da drin? Einen Stein?“
Sie hatte gelacht und geflüstert: „Keinen Stein, einen Revolver.“
„Aber wozu denn …“ Sie war ihm ins Wort gefallen: „Pst, nicht so laut!“ Er hatte ihr aus dem Mantel geholfen, sie die Tasche an sich genommen. Beim Hineingehen hat sie erzählt, sie habe ihren Jungen mit dem neuen Fahrrad begleiten müssen.
„Was hat das damit zu tun?“, fragte er naiv.
„Ich lief neben ihm her und passte auf. In den Hinterhöfen gibt es Banden, die den Jüngeren alles wegnehmen. Sie wollten ihm das Fahrrad wegreißen, da habe ich die Pistole gezeigt. Sie wussten, dass ich schießen würde.“
Das war die Geschichte mit der Pistole, Carl grinste. Der Kellner wunderte sich nicht, Westler sind komisch. Der andere Fall, der mit der Bohrmaschine, war gar nicht lustig gewesen. Seine Freundin hat wie viele Frauen in Russland davon gelebt, in Asien Kleider einzukaufen – die eigenen Produkte waren unmodern und hässlich –, über Moskau in den Norden zu bringen und zu verkaufen. Mafiosi hatten am Flughafen in Moskau von den Frauen eine Sicherheitsgebühr kassiert. Sie hatte ein gut sortiertes Lager, als eines Abends eine Bande junger Leute erschienen war, einer hatte ihr eine Pistole an die Schläfe gedrückt, während die anderen das Lager leer geräumt hatten. Bei einer Geburtstagsfeier einer Bekannten, auch eine Kleiderhändlerin, hatte sie Carl auf einen Mann aufmerksam gemacht.
„Er hat mir den Großteil meines Lagers wieder beschafft“, hatte sie geflüstert. „Sein Freund gehört zur Mafia, er hat die Sachen zurückgebracht.“
„Gut für dich. Und wie?“, bohrte er nach.
„Nicht hier, komm, tanzen wir.“ Beim Tanzen – die eben servierten Speisen wurden kalt, das war normal – hat sie erzählt, die Mafia habe die jugendlichen Gangster ausfindig gemacht, den Anführer an die Wand gestellt.
„Und hat er geplaudert?“ Fragend hat Carl sie angesehen. Sie hat den Kopf geschüttelt. „Freiwillig hätte er nie ausgepackt.
Sie haben ihm eine Bohrmaschine an die Stirn gehalten, dann hat er geredet.“
„Oh Gott! Hätten sie denn…“ Sie hat genickt. „Natürlich.“
Carl war die Lust zum Feiern vergangen, auch zum Essen, das ohnehin kalt geworden war, sie waren ins Hotel gegangen. Derlei Geschichten wurden in seine Albträume integriert.
Im Restaurant von Scheremetjewo II hatte er das dritte Glas Tee im silbern schimmernden Becher vor sich, war zweimal auf der Toilette gewesen, beobachtete die aus den niedrig hängenden Wolken auftauchenden und im aufgewirbelten Regenwasser aufsetzenden Maschinen. Die Wartezeit zog sich, seine Gedanken liefen in die Vergangenheit.
Als er seine Freundin gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle, hatte sie ihre blaugrünen Katzenaugen – sie hat Katzen mehr als alles andere auf der Welt geliebt – nachdenklich auf ihn gerichtet und geantwortet: „Warum nicht?“ Es hatte sich angehört, als hätte er gefragt, ob sie Lust habe, spazieren zu gehen. Er war dankbar, dass sie nicht hinzugefügt hatte: „Es gibt Schlimmeres.“
Seine Frau und er waren sich an dem Tisch mit den scharfen Ecken gegenüber gesessen, an denen er sich oft das Knie wund gestoßen hat. Mit trockener Kehle hat er mitgeteilt, die Russin, wie sie im Haus nur genannt wurde, heiraten zu wollen. Ihre dunklen warmen Augen hatten ihm einen schmerzerfüllten Blick zugeworfen und er hatte einen Stich in der Herzgegend verspürt. Es hat wehgetan, der Frau, die er mehr geliebt hat als sich selbst, das anzutun, aber die Sekunden, da er alles wenden hätte können, hat er verstreichen lassen. Ihr sonst so sanfter Blick hat sich wie eine Nadel in seinen gebohrt.
„Du bist dir hoffentlich im Klaren, dass es nicht lange dauern wird, bis die so viel jüngere Frau abhauen und sich nach einem anderen umschauen wird.“ Sie hatte über ihn hinweg gesehen wie immer, wenn ihn eine Antwort treffen sollte. „Also gut, aber ich bestehe auf dem gesetzlichen Jahr der Trennung.“
Der Hieb mit dem Verschwinden der jungen Frau hatte gesessen, ähnliche Gedanken waren ihm durchaus nicht fremd geblieben, das hatte ein Traum gezeigt: Die Männer, die ihre Gunst genossen hatten – ihre Figur, ihre herausfordernder Blick und die lockigen blonden Haare hatten ihr oft anerkennende Pfiffe eingetragen, und es war eine erkleckliche Zahl von Bekannten, wie sie die Kavaliere genannt hatte –, waren bei ihm aufgetaucht und hatten verlangt, er habe sie zu versorgen, sonst ergehe es ihm schlecht, er verstehe schon. Hätte er ihr den Traum erzählt, hätte sie wahrscheinlich gelacht.
Wieder kam der Kellner, er stürzte sich auf die wenigen Gäste, hatte den Umsatz zu heben, doch wenige Russen konnten sich das Restaurant leisten. Carl bestellte den zweiten Espresso, vom Tee hatte er genug, schaute auf den Block, auf dem er sich Notizen machte, wenn er unterwegs war. Er schloss die Möglichkeit nicht aus, dass die Freundin nach einem oder zwei Jahren der Akklimatisierung verschwinden könnte, zumal er im Alltag mit der geliebten Russin manche unerfreuliche Situation erlebt hatte, vor allem wenn es um Hausarbeit gegangen war.
„Du könntest mir beim Saubermachen helfen“, hatte er vorgeschlagen.
Abschätzend hatte ihr Blick aus den im Sonnenlicht grün funkelnden Augen auf ihm geruht. „Dann hättest du dir besser eine Kuhmagd aus dem Dorf suchen sollen!“
Trotz des strahlenden Sonnentags hatte es ihn gefröstelt. Seiner Frau war trotz ihrer Intelligenz und Universitätsabschluss keine Arbeit zu schmutzig gewesen. Es war eine bittere Lektion, er hatte immerhin begriffen, dass Sex und Liebe zweierlei sind.
Im Schlaf hatte er einmal gerufen: „Ich bin unschuldig!“, sie hatte ihn wach gerüttelt und gefragt, ob er von einem Verhör geträumt habe. Er hatte den Kopf geschüttelt, wollte nicht seine dunklen Seiten und Albträume offenbaren, oder gar vom Schatten seines Vaters erzählen. Noch war er sich dessen nicht bewusst gewesen, aber er hatte einen Trennungsstrich gezogen.
Auf den Start- und Landespisten war es ruhig geworden, mittags flogen nicht viele Maschinen. Zur Toilette nahm er die Umhängetasche mit, obwohl das Restaurant leer war. Bis zum Einchecken dauerte es noch, er blätterte in seinen Notizen, ergänzte das eine oder andere.
Erstaunt hatte er festgestellt, dass sich plötzlich Frauen für ihn interessierten, die er kaum gekannt hat. Eine ehemalige, längst verheiratete Studentin, die er in ihrem Haus an einem anderen See besucht hat, meinte, seine Ungebundenheit und innere Freiheit seien zu spüren, das locke Frauen an wie der Braten die Wespen. Carl hatte keine Ahnung, dass sein Vater seine Amouren mit Missfallen beäugt und ihn im Testament wegen seiner Liaison mit der Russin bestraft hatte. Gewiss, das lag alles weit zurück, aber er hatte es nicht vergessen.
Endlich erschien auf der großen Tafel das Zeichen zum Einchecken, er zog den Koffer zur Zollkontrolle. Der Beamte sah an den Visa, dass er oft hier war, der Koffer wanderte auf dem Förderband in die Tiefe. Wie immer standen Schlangen vor den Kabinen der Passkontrolleure. Endlich war er dran, reichte den Pass, empfand wie immer während der Überprüfung ein Gefühl der Ohnmacht, fühlte sich der übermächtigen Bürokratie ausgeliefert, bis der Beamte den Stempel auf das Visum knallte und den Ausweis zurückgab. Um die Prozedur an der letzten Hürde zu beschleunigen, legte er Gürtel und Geldbörse gleich in die Plastikkassette.
Endlich saß er in der Maschine, die Gebäude des Flughafens flitzten vorbei, sie stiegen auf, tauchten durch die Wolkenbänke und erreichten in Minuten die vorgeschriebene Flughöhe. Die Sonne blendete, er lehnte sich zurück, zerbrach sich den Kopf, wie sich Vater das vorstellte, das Moorland zu besuchen, hatte es doch selbst nicht mehr betreten dürfen. Mit einem Ruck setzte er sich auf: Er hatte gedacht als wäre er Hannes, ist aber nie dort gewesen, das Moorland war doch nur ein seinem Kopf entsprungenes Fantasiegebilde. Er hätte Vater nicht versprechen dürfen, zu versuchen, ihn hinzuführen. Verwundert ob der heftigen Bewegung schaute der Sitznachbar hoch, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder dem großformatigen Tageblatt schenkte, für die er zwei Sitzplätze gebraucht hätte.
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