Um der Begegnung auszuweichen, nahm er die Einladung aus Russland an, hatte eigentlich nicht mehr ans Weiße Meer fliegen wollen, scheute die Strapazen und hatte das Kapitel Russland abgeschlossen. Der Wechsel in Moskau zum innerrussischen Flughafen nach Norden war nervig wie eh und je. Schließlich stieg die Maschine steil in den Himmel, Wolkenlöcher gaben für Minuten die Sicht auf die Ausläufer der Metropole mit tausenden Datschen frei, der Flieger durchstieß die Wolkendecke und tauchte ins blendende Sonnenlicht. Das Wiedersehen im hohen Norden war herzlich wie immer. Mit ehemaligen Kolleginnen sprach er über die Jahre, da es nur Defizite gab aber nichts zu kaufen, die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch stand.
„Jetzt gibt es zwar alles, aber viele können die Waren nur durchs Schaufenster begucken.“
Vom Hotel aus spazierte er auf der Uferpromenade am breiten Strom entlang, schaute zu den Inseln mit Holzhäusern und Sägewerk. Erinnerungen an Erlebtes stiegen auf, gute und weniger gute. Beim Besuch am Deutschlehrstuhl, an dem er ein Semester gelehrt hat, saß auf einmal Vater auf dem Platz, den sein verstorbener Freund Viktor eingenommen hatte.
„Keine Sorge, sie sehen und hören mich nicht. Du musst nichts sagen, nicke einfach oder schüttle den Kopf.“
Das Gespräch drehte sich um von Krankheiten dahingeraffte Kolleginnen, die Carl gekannt hatte. Die Versorgung mit Medikamenten war katastrophal gewesen, das Wohl der Bevölkerung war der Partei ebenso gleichgültig gewesen wie den Zaren. Vater fragte ihn über den Moorsee aus, er nickte oder schüttelte den Kopf, das passte nicht immer zum Gespräch, eine junge Dozentin musterte ihn verwundert.
„Du hast das Moor also gefunden“, stellte Vater fest, „und den See gesehen, gelangtest aber nicht ans andere Ufer...“
Carl wunderte sich nicht mehr, dass Vater immer wusste, was er gemacht oder gedacht hat, schüttelte den Kopf, während Kolleginnen von den Schwierigkeiten berichteten.
„In der Sowjetära hat es oft nichts gegeben“, fasste die Lehrstuhlleiterin zusammen. „Jetzt gibt es alles, aber es fehlt das Geld, es zu kaufen.“
„Carl“, fragte eine Dozentin, die damals, als er das Gastsemester gelehrt hat, Studentin im letzten Studienjahr war, „Sie sehen das offenbar anders, schütteln den Kopf …“
„Nein, nein“, entgegnete er rasch, „ganz im Gegenteil: Ich denke, eure Probleme nehmen kein Ende.“
„Gut pariert“, lobte Vater. „Du bringst mich also zum Moorsee?“
Carl nickte und merkte, seine Reaktion auf die Frage, warum er keine Projekte mehr in Russland durchführe, war unpassend. „Nun“, korrigierte er den Fehler, „ich schaffe es gesundheitlich nicht mehr und es gibt auch kaum Mittel dafür. Bei uns weiß man, dass Russland genug Geld hätte, um Behinderten, Drogenabhängigen und psychisch Kranken zu helfen, um den Armen auf dem Land lebenswerte Bedingungen zu schaffen, den jungen Leuten eine Perspektive zu geben.“
Die Lehrstuhlleiterin Elena berichtete, wie froh damals Studentinnen gewesen sind, als Carl hier lehrte, wie sie Torten gebacken, Kekse gemacht und Geschenke überreicht hatten, um den Abschied von ihm herzlich zu gestalten. „Wir waren gerührt, wie sie den Gast aus Deutschland mit dem Wenigen, das sie hatten, ehrten“, schloss Elena.
Carl genoss den Aufenthalt in der vertrauten Stadt, streifte am letzten Nachmittag durch Straßen, wo er gewohnt, seine Freundin getroffen oder Bekannte besucht hat. Doch unbeirrt kehrten seine Gedanken zu Vaters Ansinnen zurück, ihn zum Moorsee zu führen, mochte er sich zehnmal vorsagen, die Idee, ein Toter möchte etwas kennen lernen, mutete grotesk an und der Wunsch Vaters war schon deshalb vollkommen sinnlos, weil das Moorland nicht existierte.
Die Grippewelle im Land hatte ihn verschont, er hätte sich hier einer ärztlichen Behandlung nur ungern unterzogen, auch wenn anzunehmen war, dass die medizinische Versorgung nicht mehr so katastrophal war wie seinerzeit. Wie immer in all den Jahren wurde er zum Flughafen gebracht. Beim Abschied ahnte er, wohl das letzte Mal hier zu sein und die Kolleginnen schienen ähnlich zu denken, wie ihren Abschiedsworten und Mitbringsels zu entnehmen war. Gott, wie oft hatte er sich in der Halle von der Geliebten verabschiedet, nie hatten sie gewusst, ob es ein Wiedersehen geben würde. Die Löcher im Linoleum der Halle waren größer geworden und wie damals machte jeder einen Bogen um nicht zu stolpern.
Die weiten Wälder in den Sümpfen um die Stadt am Weißen Meer entschwanden, er überließ sich Erinnerungen, dachte an seine Frau, zu der er nach seinen Reisen nach Russland, die er schon längst nicht mehr zählte, immer zurückgekehrt war. Bis jener Brief eines Anwalts auf seinem Bett gelegen hatte, der ihn aufforderte, umgehend das Haus zu verlassen, seine ehewidrige Beziehung mache ein Zusammenleben unter einem Dach für die Ehefrau unzumutbar. Moralische Gesichtspunkte hatten damals mehr Gewicht, zumindest nach außen hin.
Den Hinauswurf ohne Aussprache – offene Gespräche waren nie ihr Ding gewesen – erlebte er im Traum ein zweites Mal: Seine Frau jagte ihn mit ausgestrecktem Arm aus dem Haus, so wie die ersten Menschen aus dem Paradies gejagt worden sind, nur musste jetzt Adam alleine gehen und die Rolle Gottes hatte Eva übernommen. Zwar war das Haus auch im Traum schon lange nicht mehr das wahre Paradies, aber doch Zuflucht und Heimat. Neben der Ehefrau stand im Traum eine Schattenfigur, sein Vater. Als er erwachte, huschte ein Lächeln über Carls Gesicht: Er dachte an die abertausende Leninstatuen, die mit ausgestrecktem Arm die Menschen aus dem sozialistischen Paradies zu weisen schienen.
Ruhig brummte das Flugzeug mit der nach oben weisenden Schnauze dahin, er lehnte sich zurück. Ehe er ins Haus in der Holsteinischen Schweiz gezogen war, Minuten vom größten See entfernt, war er mit dem Sohn kreuz und quer über Land gefahren, bis sie den Weiler am Ende der Stichstraße auf der Halbinsel entdeckt hatten. Die Landschaft mit den von der Eiszeit geformten Hügeln und Seen hatte Carl auf Anhieb gefallen, auch die im rechten Winkel ans Haus gebaute Reetdach-Kate, die zum Verkauf stand. Hier hat er sich frei gefühlt wie lange nicht mehr und nicht nur, weil kein Reihenhaus den Blick ins Grüne versperrte.
Monate hatte er in einer leeren Wohnung am Rand einer Kleinstadt gehaust, auf einer Matratze geschlafen, ein Koffer den Schrank ersetzt. Abends hatte er der gegenüber wohnenden Nachbarin zugesehen, wie sie sich für die Nacht vorbereitet hatte, bis sie die Jalousien herablassen hat. Beim endgültigen Umzug spürte er, wie weh das Verlassen des Hauses tat, in dem er Jahre mit Familie verbracht, für das er gespart, an dem er repariert, im Garten Bäume gepflanzt, geschnitten und gepflegt, einen Teich angelegt hat, wo Kindergeburtstage gefeiert worden sind. Das Schöne hatte das Bittere bei weitem übertroffen.
Sein Jüngster hatte mit ihm Möbel und Klamotten in den Lieferwagen geladen, war zum neuen Domizil gefahren. Carls Frau hatte an dem Tag einen Ausflug mit Behinderten gemacht, das hatte für beide alles erleichtert. Zuerst waren Vater und Sohn einsilbig mit dem vollgepackten Auto dahingerattert, mit jedem Kilometer sind Wehmut und Verbitterung geschwunden, schließlich hatte die Freude aufs neue Heim überwogen. Möbel besorgen und aufstellen, Küchenbedarf und Krimskrams einkaufen, Lampen und Vorhangstangen montieren, all der Kram, der dazu gehört – abends war er todmüde ins Bett gesunken. Ein Jahr hatte er überwiegend allein gelebt, hatte sich in der wunderschönen Umgebung frei gefühlt wie in der Jugend, wenn er Schule geschwänzt und sich vorgestellt hatte, wie die Klassenkameraden sehnsüchtig auf den blühenden Kastanienbaum geguckt hatten. Das hatte dem Schule Schwänzen seine Würze gegeben. War er im Haus mit dem von zahlreichen Vögeln bevölkerten Garten doch manchmal in trübsinnige Stimmung verfallen, hatte ihn nicht nur einmal unerwarteter Besuch aufgemuntert.
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