„Schon gut! Halt einfach mal für ‘ne Minute deinen Mund, ja? Danke.“
Er konzentrierte sich wieder ganz auf James und Jason. Sie lungerten grinsend vor dem Schaufenster herum und flüsterten.
„Und, siehst du was, Jason?“
„Nein, verdammt! Die Umkleiden sind von hier draußen nicht einzusehen. Aber hey, du brauchst nicht zufällig ein neues Beachoutfit für heute Abend?“
„Ich denke, ich habe erst ein nagelneues bekommen.“
Jason schlug seinem Freund auf den Hinterkopf. „Idiot! Aber immerhin. Sie kommen zum Pier, wer hätte das gedacht. Diese Party geht richtig ab!“
„Brooke, sicher. Aber die Rothaarige kannst du knicken. Die ist hart wie Granit.“
„Pass auf, James, die Wette gilt! Die Rote gehört mir, gib mir zwei Tage. Spätestens Anfang der Woche ist sie reif.“
Sie schlugen sich grölend in die Hände und schlenderten zum Strand hinab. Samuel bebte vor Wut. Sein Atem zischte. Er wusste, dass Amy seinen pochenden Herzschlag hörte. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seinen Oberarm.
„Okay. Ich verstehe, du hast ein großes Problem. Aber du wirst dort nicht hingehen. Hast du mich verstanden? Wenn du es tust, fühle ich mich gezwungen, Dad zu informieren.“
Er brüllte sie an und schleuderte ihre Hand von seinem Arm.
„Sam! Beruhige dich !“
„Ich soll mich beruhigen ? Es reicht! Ich habe keine Lust mehr auf dieses Spiel! Ich gehöre nicht hierher! Verstehst du? Ich bin eine Gefahr für euch und für alle anderen dort unten. Und sie haben mich selbst zu dieser Gefahr gemacht. Was spricht dagegen, einem Mädchen zu helfen? Ich werde ihr schon nicht auf die Nase binden, was sie ohnehin nicht begreift.“
Mit einer energischen Geste fuhr er sich durch die Haare. Amy kannte ihn zu gut. Er wusste, was sie wusste. Ihre Gedanken waren in all den Jahren miteinander verschmolzen. Nichts würde ihn davon abhalten, die rothaarige Fremde vor Jason zu beschützen.
„Versprich mir, dass du vorsichtig bist. Hau diesen Typen dahinten meinetwegen eins auf die Nase, aber gib dem Mädchen keinen Anlass, dich zu hinterfragen. Bitte, Sam.“
Ihr Blick war flehender, als der von Mom je sein konnte. In ihren Augen las er ehrliche Sorge und sogar eine Spur von Angst.
„Ich verspreche es.“
Margarethe
Jacob schaute aus seinem Korb auf, legte die Ohren nach vorn und deutete ein Bellen an. Margret saß in ihrem Schaukelstuhl und stickte. Sie war nicht weit gekommen. Immer wieder griff sie nach dem Taschentuch und hinderte die Tränen daran, auf die Handarbeit zu tropfen. Sie dachte an den Brief. Auf dem Sterbebett war dem alten Dickkopf vermutlich eingefallen, dass er eine verstoßene Tochter am anderen Ende der Welt hatte. Wenn es ihn im Leben nicht geschert hatte, wie es ihr ergangen war, was hatte er ihr im Tod dann zu sagen?
„Tante Margret! Möchtest du sehen, was ich mir in Falmouth gekauft habe?“ Kriemhild kam über die Veranda herein und stockte. „Du weinst ?“
Sie lief auf sie zu, ließ die Tragetasche der Boutique zu Boden sinken und hockte sich neben den Schaukelstuhl. Margret zwang sich zu einem Lächeln.
„Ach, eine dumme Allergie … Vermutlich Pollen.“
„Du bist eine ziemlich schlechte Lügnerin, also versuch es erst gar nicht.“ Ihre Nichte umarmte sie. „Du weinst meinetwegen, hab ich Recht? Ich habe dich an ihn erinnert.“
„Es ist wegen deines Großvaters“, gestand sie.
„Willst du mir davon erzählen?“
Margret zuckte mit den Schultern und legte die Stickerei beiseite.
„Hat Elisabeth denn nie mit dir darüber gesprochen?“
„Nicht wirklich. Ma sagte nur, dass er dich rausgeschmissen hat wegen der Sache mit John.“
Margret nickte und Kriemhild nahm auf einem der Sessel Platz.
„Das ist nur der kleinste Teil der Wahrheit“, begann sie und holte tief Luft. „Warum nicht? Vielleicht solltest du die Geschichte hören.“
Ihr Blick ging in weite Ferne. Tränen benetzten ihre Erinnerungen. Und doch war es, als wäre es gestern gewesen, als wäre die Zeit stehengeblieben.
„Weißt du, Kind, ich war gerade mal dreizehn, als im Oktober ‘58 die General G.M. Randall in Bremerhaven einlief, um neue US-Truppen an Land zu setzen. Vater hatte es mir streng verboten, aber ich stand doch heimlich in der Menschenmenge – mit hochroten Wangen – und bejubelte Elvis, der als Wehrpflichtiger von Bord ging.“ Margret lächelte, als die Bilder ihrer Jugend in ihr hochkamen. „Nie werde ich diesen Tag vergessen können!“
Kriemhild lauschte ihr gebannt. Margret griff nach ihrem Taschentuch. Und während sie erzählte, spürte sie wieder dasselbe Kribbeln in ihrem Körper, das sie schon damals gespürt hatte; als sie ihn zum ersten Mal gesehen und sofort gewusst hatte, dass er der Richtige war.
„Zwei Jahre später lief John mit einem dieser Schiffe ein. Weniger bedeutend für die Welt, aber für ihn und mich der Anfang eines neuen Lebens … Ja, das waren große Zeiten. Inmitten des Kalten Krieges, der Afrikanischen Unabhängigkeitskriege gegen ihre Kolonialmächte, Deutschland strebte wirtschaftlich auf … Geschichte, die du sicher aus der Schulzeit kennst.“
„Ich hatte keine Ahnung, dass du so jung warst, als ihr euch kennengelernt habt“, rief Kriemhild. „Was hat Großvater denn dazu gesagt?“
Margret lachte schmerzhaft. „Er hatte keine Ahnung! John und ich trafen uns zunächst heimlich … in der Kaserne … Wann immer ich mich aus der Nähstube schleichen konnte, war ich bei ihm. Ich sehe es noch ganz deutlich vor mir, wie ich auf seinem Schoß saß, dicht gedrängt um ein kleines Radiogerät mit seinen Kameraden. Wir verfolgten die Präsidentschaftswahlen in ihrer Heimat. Du hättest ihren Jubel hören müssen, als John F. Kennedy gegen Richard Nixon die überraschende Mehrheit erlangte.“
„Was ist dann geschehen? Wie ist Großvater dahintergekommen?“
„Ach, Kind …“ Margret schüttelte den Kopf und rang lange Zeit mit sich selbst, bevor sie mit bebender Stimme weitersprach. „Es geschah etwas, das uns früher oder später überführt hätte … Ich … wurde schwanger.“ Sie tupfte eine Träne von ihrer Wange und ihre Stimme versagte.
Kriemhild hockte bewegungslos auf dem Sofa und schwieg. Doch ihre Blicke verrieten den Kummer. Nach einiger Zeit fuhr Margret fort. Die Bilder in ihrem Kopf schmerzten.
„Vater wartete mit dem Rohrstock in der Tür. Mutter und Elisabeth weinten in der Küche … Vielleicht hoffte er, ich würde den unehelichen Bastard – wie er das Kind nannte – durch die Schläge verlieren. Doch den Gefallen tat ich ihm nicht. Dann schmiss er mich raus. Vermutlich hatte der Krieg ihm den Rest gegeben. Elisabeth schrie mir nach … dass sie mich liebe und mich besuchen wolle … John verließ die Armee und auf dringendes Anraten seiner Eltern hin heirateten wir. Wie sonst hätte eine minderjährige, schwangere Deutsche in die USA einreisen sollen?“
Kriemhild war leichenblass. „Und Johns Eltern? Haben sie dich … einfach so akzeptiert?“
„Nein, Liebes, wo denkst du hin? Doch ihnen blieb nach außen hin keine Wahl. Sein Vater war einer der besten Ärzte Neuenglands. Damals herrschten andere Zeiten … Man wollte mit aller Macht den Schein wahren. Vielleicht war das mein Glück. Deutschland habe ich seither nicht wieder betreten – außer zur Silberhochzeit deiner Eltern.“
Margret weinte und wollte mit zittriger Stimme fortfahren: „Unser Kind, das sehr bald zur Welt kommen sollte …“
„Nein!“, rief Kriemhild und fiel ihr um den Hals. „Hör auf! Ich will nicht, dass du noch mehr leidest. Erzähl es mir ein anderes Mal.“
„Der Brief … Bitte, ich will ihn sehen. Es ist an der Zeit, endlich damit abzuschließen. Würdest du ihn mir geben?“
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