»Sieh sie dir an, Tascha. SIEH HIN!«, die laute Stimme ließ die Boxen krachen und knacken.
»Jetzt können sie dich nicht mehr beschützen, keiner kann dir mehr helfen. Du bist alleine.«
Das Bild verschwand kurz und ich dachte schon das war alles. Dann flackerte es wieder und die nächste Einstellung kam. Diesmal hingen Ansgar und Josh nebeneinander an langen, dicken Ketten, die um ihre Handgelenke gewickelt waren und zur Decke führten. Beide hatten den Oberkörper nackt und waren mit unzähligen Wunden übersät, aus denen Blut austrat und langsam an ihnen herab floss. Ihre Köpfe waren nach vorne gelehnt, aber ich konnte sehen, dass der Genickbruch verheilt war. Also dauerte ihre Gefangenschaft bereits ein paar Stunden.
Die Kamera fuhr nach rechts und zeigte den Hals von Ansgar. Zwei Einstichstellen prangten an der Seite.
Sie haben sie ausgesaugt und sie so geschwächt, schoss es mir durch den Kopf.
Die Einstellung änderte sich, ich sah beide wieder an den Ketten hängen. Ganz plötzlich stand Justin zwischen ihnen und blitzte in die Kamera.
»Na, Tascha, wie gefällt dir das?« Sein Blick war wie irre. Er ist wahnsinnig, dachte ich, völlig verrückt.
Justin griff in Ansgars kurze Haare und riss seinen Kopf hoch. Ansgar hatte die Augen offen, aber ich konnte sie nicht richtig erkennen, da die Kamera wackelte und zu weit weg war. Sie fuhr näher heran, auf Justin, der wie verrückt grinste und dabei seine langen Dolche entblößte. Er beugte sich zu Ansgar hin und schlug ihm seine Zähne in den Hals.
In der linken oberen Ecke des Bildschirmes, konnte ich noch ein Auge von Ansgar sehen. Das Feuer in der Pupille war fast verloschen, aber der pulsierende glutrote Ring erweiterte sich für eine Sekunde, wuchs an und drehte sich kurz träge im Kreis, die Lava-Augen lebten noch.
Justin ließ von ihm ab und kam auf die Kamera zu, seine Augen waren gelb, Raubtieraugen, an seinen Zähnen lief Blut herunter. Ansgars Blut, dachte ich bestürzt.
Justin fixierte mich durch die Kamera und brüllte: »Acht Uhr heute Abend, unten am Fluss, wenn du Glück hast, sind sie dann noch nicht tot.« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Schlagartig wurde er ernst und sah wieder in die Kamera. » … und hast du jemals Glück gehabt, Tascha?« Es folgte dieses irre Lachen, dann war der Bildschirm schwarz.
Die CD war zu Ende.
Ich versendete die Daten per E-Mail, an die Adressen, die ich in Joshs Programm unter dem Eintrag Bewahrer finden konnte. Vielleicht hatte ich ja doch Glück.
Als ich den Computer ausschaltete, fiel mein Blick auf die Wand hinter dem Bildschirm, dort hing ein Bilderrahmen mit einem Spruch.
Donec eris sospes, multos numeribasamicos,
terpora si fuerint nubila, solus eris.
Solange du glücklich bist, wirst du viele Freunde zählen,
wenn die Zeiten trübe sind, wirst du alleine sein.
Was hatten die alten Vampire nur immer mit ihrem Latein, ich verstand es nicht. Aber der Spruch passte.
Meine beiden besten Freunde waren weg, es waren trübe Zeiten angebrochen und ich war allein.
Allein mit meinem Monster.
Ich blickte auf den schwarzen Bildschirm und sah darin meine Augen, wie sie sich spiegelten, sie glühten, die Lava drehte sich im Kreis, das Feuer loderte kurz.
»Ich bin auf dem Weg mein Geliebter, ich komme zu dir«, meine Stimme glich einem Reibeisen, »in perpetuum, für immer und ewig.«
Ich stand auf und ging langsam aus dem Büro.
»Ich komme …«
Abermals stand ich auf der Stadtmauer, der beißende Wind wollte mich mit aller Macht von den Zinnen wehen, hinab in die Tiefe reißen.
Ich aber stand ganz still, die Arme ausgebreitet und den Kopf in den Nacken gelegt.
Ich tankte Kraft, stand auf dem bröckeligen Gestein der alten Mauer und konzentrierte mich.
Zuerst sah ich noch Ansgars Auge auf dem Bildschirm vor mir und wie die Lava kurz rotierte.
Dann war auch dieses Bild weg und ich sah nur noch eine rote Wand vor mir, eine Wand aus Nebel. Ich ahnte, dass ich nur hindurch treten brauchte und die Lösung lag vor mir, dann wusste ich genau, was geschehen würde und geschehen musste.
Ich stand vor der riesigen Wand, sie war höher, als ich blicken konnte, sie schien das ganze Universum einzunehmen. Ich streckte meine Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen die nebelige rote Masse.
Der Nebel driftete ein wenig auseinander, machte meinen Fingern Platz. Wie roter Qualm, kräuselte er sich um meine Fingerspitzen. Ich zog die Hand zurück und fuhr mit dem Daumen über die anderen Finger, der Nebel war eiskalt, dann kam die Wärme. Die Fingerspitzen, die eben noch den Qualm berührten, wurden warm, richtiggehend heiß.
Ich schloss meine Augen und holte tief Luft und trat durch die Nebelwand.
Es war ein Gefühl, als tauchte ich in Eiswasser, es war kalt, die Kälte berührte meine Haut, ließ sie gefrieren, drang durch sie hindurch und kroch in meinen Körper. Augenblicklich erstarrte alles in mir zu Eis, dann war ich durch.
Hinter dem Nebel sah es genauso aus wie davor. Das Eis in mir schmolz, es verflüchtigte sich fast schlagartig und eine herrliche Wärme breitete sich in meinem Körper aus.
Es war anders, als die Wärme, die entstand, wenn ich Blut trank. Es war heißer, viel heißer. Innerlich kochte ich, so stellte ich mir die Hölle vor. Nur verspürte ich keinerlei Schmerzen, bloß dieses Gefühl der Hitze in mir. Ich fühlte mich ausgesprochen gut.
Ich riss meine Augen auf und sah die Dunkelheit vor mir, spürte den kalten Wind auf meiner Haut. Aber die Wärme war noch in mir, ich konnte sie fühlen.
Ich machte einen Schritt nach vorne und fiel in die Tiefe, der plötzliche Windstoß riss meine Haare nach oben und zerrte an meinen Sachen.
Sanft landete ich auf meinen Füßen und lief los.
Mein Geliebter, ich komme.
Ich kam am Fluss an und hielt die Nase in den Wind. Ansgar konnte ich nicht riechen, er verströmte keinen Geruch. Aber ich hatte die Fährte von Josh aufgenommen und von Justin. Ich folgte ihnen. Es führte mich an den Bürogebäuden vorbei. Hinter jeder Ecke, in jeder Gasse vermutete ich eine Falle. Befürchtete, dass Justin plötzlich vor mir stand und mich angriff. Aber alles war ruhig, ja geradezu unheimlich still.
In einiger Entfernung hörte ich einen Hund heulen, das lenkte mich eine Sekunde ab.
Ich wurde gerammt und flog im hohen Bogen durch die Luft. Ich war noch nicht ganz gelandet, da packten mich schon unzählige Hände und drückten mich zu Boden. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, keinen Zentimeter mehr rühren.
Ich blickte mich um, sechs Vampire hielten mich an Armen und Beinen fest, ich kannte ein paar von ihnen. Josh hatte mir von ihnen erzählt, sie gehörten noch dem harten Kern der Vernichter an, er hatte sie bis heute nicht schnappen können. Dann sah ich Dennis vor mir, er grinste mich an und hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt.
»Hab ich dich doch erwischt«, seine Stimme hatte mit seiner früheren nichts mehr gemein.
»Los, packt sie, wir tragen sie zu den Anderen.«
Ich wurde hoch gehoben, je einer an meinem Arm und je zwei an meinen Beinen. Ich kam mir vor wie eine Antilope, die gerade erlegt wurde und jetzt zum weiteren Verzehr in die Höhle getragen wurde.
Ich war wütend auf mich selbst, aber so brauchte ich Ansgar und Josh nicht suchen, ich kam wie von selbst zu ihnen.
Die Vampire trugen mich am Flussufer entlang, wir passierten mehrere Gebäude, bis wir zu einer langgestreckten Lagerhalle gelangten.
Schon von außen konnte ich das Knurren und Geifern von anderen meiner Art hören, noch bevor ich ihren staubigen, pergamentartigen Geruch roch.
Dennis hielt uns die Tür auf, ließ die Vampire mit ihrer Beute vorgehen. Als ich an ihm vorbei getragen wurde, blickte er mich kurz an und knurrte:
Читать дальше