Entgegen dem Rat der Großmutter, das Kind besser noch unter häuslicher Kontrolle zu behalten, musste sich Marie im fünften März ihres Lebens mit zwei Zicklein bei Sonnenaufgang erstmals den zur Weide ziehenden Kindern anschließen.
„Die anderen werden schon Acht geben“, meinte der Vater zur leise in sich hinein murrenden Alten, womit für den wortkargen Mann alles dazu gesagt war. Seitdem er seine eigene Frau begraben musste, war er noch stiller geworden – fast so still wie die Toten auf dem Gottesacker, meinten die Leute. Keine hatte bisher seine zweite Frau werden wollen, und allmählich begann mit der Hoffnung auf einen Erben auch er selbst dahin zu sterben. Irgendwann, so tuschelte man hinter vorgehaltenen Händen, würde er sich wohl einfach selbst sein Grab schaufeln und nicht mehr zurückkehren.
Mit einer Weidenrute trieb Marie die beiden Zicklein aus dem Stall und zur Umfriedung hinaus. Barbara Bickler, die flussabwärts wohnte, hatte das Kind von weitem bemerkt, war vom Hirtenweg ab die Kreuzgasse zum Schaffnerhaus entlang gelaufen und hatte das Gatter bereits geöffnet. Marie verzog das Gesicht. „Das hab’ ich selber machen wollen!“, schrie sie und trieb die Zicklein, wild mit der Rute fuchtelnd, die leicht ansteigende Kreuzgasse hinauf.
„Siehst fast aus wie unser Bock“, lachte Barbaras jüngerer Bruder Michael, der mit dem anderen Vieh auf dem Hirtenweg, nahe der südlichen Stadtmauer, gewartet hatte. „Fehlen nur noch die Hörner, aber vielleicht sieht man sie nur nicht.“ Martin Heiliger, zwölf und fast einen Kopf kleiner als Michael, lachte zaghaft mit, was ihm den Spott des Älteren eintrug. „Und du hörst dich an wie unser Bock.“
Verschämt verstummte Martin und blickte sich um. Obwohl Michael laut gesprochen hatte, schienen andere Kinder es nicht mitgekriegt zu haben, waren noch zu weit entfernt.
Maries runde Stirn glühte trotzigrot, als sie vergeblich versuchte, ihre beiden von den anderen Ziegen und Schafen abzutrennen. Durch Michaels erneutes Gelächter in diesem Bemühen erst recht angefeuert, rannte sie in inmitten der Herde den Hirtenweg flussaufwärts, an der Stadtmauer entlang. Rechter Hand drängten sich Lehm- und Fachwerkbauten aneinander, immer schiefer und dichter, immer mühsamer geteilt vom Gassengewirr, je näher Bärenbrücks ältester Stadtteil rückte. Kinder, Haus für Haus ärmlicher, in Kleidern, zusammengeflickt wie Gemäuer und Fensterläden, trieben ihr Vieh aus engen Seitengässchen hinaus zum Weideweg und schlossen sich den anderen an. Mit armseligen Glöckchen im Dachstuhl erhob sich der Turm der Spitalkirche über die umstehenden Dächer. Im Vorbeigehen warfen die Kinder flüchtige Blicke durch die Seitengassen zum Spitalplatz, aus ihrem Gedankentrott gerissen von den Rufen der Stadtarmen und durchziehenden Bettler. Die äußere Stadtmauer beschrieb einen Bogen und zwang die Hirten näher heran. Hier war die Glutach noch schlank und verschwand fast zwischen den inneren Mauern, die sie säumten.
Das nordwestliche Ufer stieg nach einer schmalen Häuserzeile steil an und hob sich vom alten Stadtteil ab mit versetzt gebauten Patrizierpalästen, zwischen denen sich paradiesisch anmutende Gärten erstreckten. Dahinter, jenseits der äußeren nördlichen Stadtmauer, schienen Weinberge bis an den jetzt wolkenlosen Himmel heranzureichen und ließen ihre Reben von der Märzsonne verwöhnen.
Mühsam hielten die Kinder das hungrige Vieh auf dem eingetretenen Hirtenweg, bis sie die letzten Häuser im Rücken hatten, an der Rennermühle vorbei waren und das nordwestliche Stadttor passierten. Von hier an wand sich die Glutach in immer engeren Schleifen. Wenn das Gras erst höher spross, würde es scheinen, als wüchsen beide Weidehälften ein paar hundert Fuß weiter am Waldsaum zusammen. Von dort an ließ sich die Glutach zwischen dunklem Nadelgehölz bis zu ihrem Ursprungsquell verfolgen. Halbwüchsigen Burschen galt es manchmal als Mutprobe, allein im Bärenwald zu verschwinden und nicht ohne stattliche Beute zurückzukehren. Meistens handelte es sich dabei um einen Eichelhäher oder ein Wiesel. Doch konnte man unter Umständen leicht selbst im Bärenwald zur Beute werden. Über Generationen hinweg überlieferte sich, dass einst – wann, wusste niemand mehr genau zu sagen – ein Hütebub seine Schafe zu nah an den Wald herangeführt und dadurch einen neugierigen Braunbären angelockt haben sollte. Tapfer habe er seine Herde verteidigen wollen, sei aber von dem Untier ergriffen und in den Wald geschleppt worden. Später habe man nur noch seine Gürtelschnalle gefunden und den Eltern zum Andenken gebracht.
Mit der Zeit wurde diese Geschichte zur Legende. Zuletzt erzählte man sich, unter der weißen Herde wäre ein schwarzes Schaf gewesen, das den Buben zum Wald gelockt hätte, denn unter seinem Fell steckte der Teufel. Seitdem vermied es, wer konnte, seine Kinder mit einem schwarzen Schaf zu diesem Weidegrund zu schicken.
Die jungen Viehhirten packten ihre getrockneten Hirsefladen aus, schöpften mit Holzbechern Wasser aus der Glutach und hockten sich am Uferrand ins Gras oder auf herumliegende Steine. Ziegen und Schafe stillten ihren Durst und begannen gemächlich zu grasen.
„Marieles Ziegen sind genauso zickig wie sie.“ Grinsend beobachtete Michael, wie eine der Braun-weiß-gescheckten mit gesenktem Kopf ein Schaf von einem frischgrün sprießenden Grasflecken wegstieß.
Barbara warf der Kleinen einen mahnenden Blick zu. „Das Mariele weiß schon, dass es sich nicht so benehmen darf wie das dumme Vieh, nicht wahr, Mariele?“
Das Kind schützte einen vollen Mund vor und nickte, ohne Barbara anzusehen. Der fast Erwachsenen oblag die unausgesprochene Pflicht, nicht allein auf ihre vierbeinigen Schäfchen zu achten. Seit den ersten Weidetagen dieses Jahres fiel ihr auf, dass die zehnjährige Anna Wagner dauernd ihre Nähe suchte. Auch jetzt saß sie wie zufällig neben ihr und rieb das feine Blondhaar an ihrer Schulter, eifersüchtig beäugt von Martin, der sich sehnsuchtsvoll an Annas Stelle wünschte. Doch seit einiger Zeit verwehrte ihm Barbara eine solche Nähe, zumindest in der Öffentlichkeit.
„Ist ja nicht dumm vom Vieh, wenn es sich durchsetzt“, gab Michael zu bedenken.
Barbara seufzte. „Von uns Menschen verlangt Gott, dass wir Rücksicht aufeinander nehmen.“
Michael zückte das Messer an seinem Gürtel und schnitzte an seiner Weidenrute herum. „Ich hab’ schon viele gesehen, die sich nicht gottgefällig benommen haben und dafür sogar belohnt worden sind.“
„Der Herr Pfarrer sagt, dass unser Herrgott dem Bösen absichtlich so viel Macht lässt, weil er uns dadurch prüfen will.“
„So, sagt er das?“ Nicht nur Michael wunderte sich über Annas Worte. Bisher sprach sie nur, was unbedingt nötig war.
„Sicher Michel“, bestätigte Barbara, die sich über den Hochmut in des Bruders Stimme ärgerte. „Du hättest es eigentlich auch hören müssen, oder hast du in der Schule geschlafen?
Der Junge sprang auf und trieb mit der Rute zwei Schafe auseinander, die sich friedlich beknabberten.
„Ich hab’ es gehört“, behauptete Marie.
Michael wollte gerade noch mal zuschlagen, hielt in der Bewegung inne und lachte. „Du? Du gehst doch noch gar nicht zur Schule.“
Barbara strich der abwehrenden Marie über das Haar. „Ich weiß aber trotzdem, dass es so ist“, beharrte das Kind, „und noch viel mehr weiß ich. Wenn ich Großmutters Zaubersalbe dabei hätte, würde ich die Gerte damit einreiben und ordentlich zuhauen. Dann wollten sich Ziegen und Schafe gleich miteinander vertragen. Mit der Zaubersalbe kann man aber noch viel mehr anfangen. Die Großmutter reibt nachts immer den Besenstiel damit ein, bevor wir ausfliegen.“
Die Worte purzelten aus ihrem Mund und überschlugen sich, als Marie erzählte, wie die Großmutter sie oft in der Nacht wecke und in die Stube hinunterführe. Dort stünde schon der Besen über dem Boden in der Luft und warte. Die Fensterläden seien weit aufgerissen, und der volle Mond leuchte silbern herein. Dann sausten sie auf dem Besenstiel durch das Fenster, auf den Mond zu. Die Haare flatterten im Wind, und die Großmutter hinter ihr lache immer lauter. Bald landete der Besen hier.
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