So weit Rudolf Steiner. In diesem Text werden mehrere Motive miteinander verbunden, aber zunächst interessiert uns der Begriff der Harmonie, die unseren Erkenntniswillen befriedigt. Ist das überhaupt ein psychologischer Begriff, wie man heute wohl meinen dürfte, oder enthält er etwas, das bis in die Erkenntnistheorie reicht?
b. Was hier in scheinbar anspruchsloser umgangssprachlicher Fassung „Wahrheit“ genannt wird, stellt zweifellos diesen Bezug her, meint aber zunächst nicht viel mehr als die tägliche Erfahrung der logischen Stimmigkeit von Sätzen aller Art, von gesprochenen und auch formalisierten Begriffsrelationen, also einen gedanklichen Zusammenhang, der durch sich selbst einleuchtet, weil er keiner äußeren Stütze bedarf. Dabei ist es gleichgültig, ob subjektive Unzulänglichkeit eine Rolle spielt und Einsichten vorgaukelt, die keine sind. Dass wir falsche Sätze für wahr halten können, beweist nur, wie unverzichtbar das Erlebnis dieser Stimmigkeit ist. Ohne das Phänomen der „Einsicht“ oder des „Einleuchtens“ gäbe es keine Wissenschaft, ja wir wären nicht einmal in der Lage, unser tägliches Leben zu führen. Die logische Stimmigkeit ist die Sonne, um die alle Begriffe kreisen, auch wenn sie selbst nicht sichtbar wird. Es genügt das Licht, das sie ausstrahlt, um Wahrheit oder Irrtum hervorzubringen. Und diese rätselhafte Stimmigkeit bewegt sich, je nach den subjektiven Randbedingungen, in Graden oder Stufen - bis hinauf zum Erlebnis der absoluten Sicherheit, die wir „Evidenz“ zu nennen gewohnt sind. Die Sache selbst bleibt in allen subjektiven Variationen unverändert. Wir wollen deshalb in Zukunft den Begriff der Evidenz in diesem Sinne verwenden: Evidenz als objektive Realität des Phänomens der Stimmigkeit, um dessen reinste Erscheinungsform wir uns bemühen müssen, wenn wir erkennen wollen, gleichviel welchen Streich uns die subjektiven Unzulänglichkeiten spielen. In welche Schwierigkeiten wir geraten, wenn wir die höchstmögliche Stufe erklimmen wollen, zeigen die berühmten „Axiome“ der Mathematik, die uns einmal als ewige Wahrheiten erschienen und dann doch problematisiert werden mussten. Wir wissen hier noch nicht, wohin der Weg führt und wie weit wir ihn gehen können.
c. Ich habe gerade das Wort „rätselhaft“ für das Phänomen der Stimmigkeit gebraucht. Der Grund ist, dass wir eine ganze Reihe von Begriffen derselben Art nachweisen können, die uns in Verlegenheit bringen. Ihr „rätselhaftes“ Charakteristikum ist die eigentümliche Tatsache, dass sie keine Merkmale der raumzeitlichen Sinneswelt an sich tragen, also den Eindruck erwecken, als seien sie Offenbarungsformen einer überirdischen Welt. Wir werden viele solcher Begriffe kennenlernen, die ihrem Wesen nach den Charakter des Über-Sinnlichen tragen und so miteinander verbunden werden können, dass eine Sphäre der Idealität entsteht, in die wir uns nur schwer einleben können. Gelingt das aber dennoch, dann sind wir versucht, diese erdfernen Resultate unseres Denkens, diese scheinbar bezuglosen „Quasi-Gegenstände“ als Fiktionen, Phantasmagorien oder subjektive Irrlichter zu bezeichnen, mit denen man alles und nichts machen kann. Wir wollen diese spezielle Art der Gedankenbildung das „reine Denken“ nennen, wie das allgemein üblich ist. Sie wissen, dass es seinen bedeutsamsten Ausdruck in den Philosophien des Parmenides und des Plato fand und schließlich in der „Logik“ Hegels seinen Höhepunkt erreichte. Am subtilsten tritt es in Erscheinung, wenn sich das Denken auf sich selbst richtet und damit alle sinnlichen Elemente ausschließt. Aber hier treten nun die Schwierigkeiten auf. Wie sollte es möglich sein, dass sich das Denken selbst ergreift und erkennt? Wir wissen ja längst, dass sich der Denkprozess nicht beobachten lässt. Eine Selbstbegegnung des Denkens kann nur in der Weise stattfinden, dass sich das „bestimmungslose Denken“ mit seinen selbstproduzierten Resultaten auseinandersetzt. Nun spricht Rudolf Steiner in seinen Büchern und Vorträgen sehr häufig von der „Anschauung des Denkens“ als einer erreichbaren Fähigkeit des Menschen, die über das bloß theoretisierende „Denken über das Denken“ weit hinausreicht. Der Begriff der „Anschauung“ kann aber nicht vom Begriff der „Beobachtung“ getrennt werden - ganz zu schweigen von dem Umstand, dass heute jede Form der Anschaulichkeit erkenntnistheoretisch verdächtig ist. Hier scheint also ein Widerspruch vorzuliegen. In Wahrheit haben wir dieses Problem schon weitgehend gelöst. Wenn die objektivierte Gegenüberstellung der selbstproduzierten Begriffe eintritt, dann beschäftigt sich zwar, wie wir wissen, das bestimmungslose Denken mit seinen eigenen Geschöpfen, aber unser Ich erlebt nun gewiss nicht den vorausgegangenen Denkprozess, sondern das Zusammenwirken der Begriffe in der geschilderten Weise: es nimmt im begrifflichen Spiel und Widerspiel den evidentiellen Charakter des Denkens wahr, der niemals aus der Betrachtung des einzelnen Begriffs hervorgehen kann. Wir machen eine übersinnliche und überbegriffliche Erfahrung, ohne die wir keine einzige Begriffsverbindung oder gedankliche Synthese jemals anerkennen könnten. Das ist der entscheidende abschließende Vorgang, der überhaupt erst das Denken zum Denken macht, wie wir es immer erfahren. Wer das nicht einsehen will, wer im logischen Positivismus stecken bleibt, hat auf genaue Beobachtungen verzichtet, verliert sich in abstrakten Logifizierungen und sitzt in einer selbstfabrizierten Falle. Er versäumt es, zumeist in hochmütiger Form, die genannte Erfahrung zu machen und dem bestimmungslosen Denken zur weiteren Verarbeitung zu unterbreiten (Denkbeobachtung). Wer den von uns vorgeschlagenen Weg geht, lebt sich nach und nach in das sog. „reine Denken“ ein, also in jenes Element, in dem sich überhaupt erst der so schwierige Begriff der Wahrheit sachgemäß behandeln lässt. Unsere evidentielle Erfahrung geht über alle spezifischen Kogitate hinaus und ergreift eine Realität, von deren Gnaden jeder einzelne Gedanke erst zum Gedanken wird. Wenn ich „Realität“ sage, dann konstruiere ich natürlich keine platonistische Hypostase, kein geistiges „Ding“, das irgendwo schwebt, sondern beschreibe eine Wahrnehmung, von der wir hier noch gar nicht wissen, in welchen ontologischen Zusammenhang sie gehört. Es ist ja die empirisch-aktologische Methode, die wir benützen und mit deren Hilfe wir lediglich feststellen, dass wir bei genauem Hinblick auf eine Phänomen stoßen, das unsere gesamte Ich-Organisation realiter bestimmt, also gar nichts mit subjektiven Phantasmagorien zu tun hat, sondern im selben Sinne wirklich ist wie Gestirne, Menschen, Tiere und Steine. Über den Begriff der „Realität“ werden wir noch ausführlich zu sprechen haben. Jetzt müssen wir aber eine interessante Schlussfolgerung ziehen, die Sie wohl schon selbst in Gedanken vorweggenommen haben: „Evidenz“ und „bestimmungsloses Denken“ sind in auffälliger Weise aufeinander bezogen. Beide stehen über allen ihren Begriffen und Kogitaten. Wir werden ausfindig machen müssen, ob sich eine einsehbare Beziehung herstellen lässt, mit der wir arbeiten können. Jedenfalls berühren sich hier Erkenntnistheorie und Psychologie in unmittelbarer Weise, d.h. wir stoßen auf ein Drittes, auf das früher erwähnte sog. „Junktim“, das Rudolf Steiner als erster erkannt hat, ohne es so zu benennen. Er spricht von der „Anschauung des Denkens“ und meint genau diesen Sachverhalt. Manchmal spricht er auch von der „Wahrheitswelt“, in der wir unmittelbar leben, ohne auf metaphysische Spekulationen oder logifizierende Formalismen angewiesen zu sein. Allein das „reine Denken“, das hier seine höchste Stufe erreicht, kann uns in die Sphäre der Wahrheit führen, aber in einer Weise, die Sie zunächst nicht ganz befriedigen dürfte.
d. Nach diesen Vorbereitungen können wir uns der Absolutheit des Denkens zuwenden. Als Einstieg möge uns der folgende Text aus der „Philosophie der Freiheit“ dienen:
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