„Versteh ich gar nicht! Das kann doch gar nicht sein. Man kann doch mit jedem reden!“
„Nicht mit dem. Mit dem konnte man noch nie reden. Nur sein Wille zählt und es gibt keine Lösung. Was will man da machen?“
Sie nippten an ihren Gläsern und sahen der Kellnerin zu, wie sie die anderen bediente.
„Was du machen kannst?“, meinte Pit schließlich.“Du packst deine Sachen und verschwindest in die Stadt.“
Tom sah ihn skeptisch an. „Das sagst du so leicht. Aber hast du mal dran gedacht, dass ich nur eine Ausbildung als Landwirt habe. Was soll ich da irgendwo in einer anderen Stadt? Da wartet niemand mit `nem tollen Job auf mich, das ist nicht so, wie bei dir.“
„Verstehe!“, meinte Pit, nachdem er Tom wieder eine Weile nachdenklich angesehen hatte. „Na, wenn das so ist!“ Er nippte und dachte nach.
„Tut die Nase noch weh?“, wollte Tom wissen.
Pit befühlte sie nochmals und lachte. „Mach dir mal da keine Sorgen! Das wird schon wieder. Aber reagiere dich beim nächsten Mal erst zuhause an deinem Trainingsgestell ab, bevor du dir wieder einen von uns vornimmst!“
„Abgemacht!“
Sie stießen mit den Gläsern an und lachten.
4
„Hier, hier ist die Annonce, die ich aus der Zeitung ausgeschnitten habe!“, rief Alwina und schwenkte einen kleinen Zettel durch die Luft. „Ich wusste doch, dass ich ihn aufgehoben habe. Und wo war er? Da wo er hingehört. In der obersten Schublade.“ Sie sprang von ihrem Stuhl auf, eilte hinüber zum Sofa in ihrem Zimmer, setzte sich neben Sofia und hielt ihr das Papier hin.
Sofia nahm den Zettel und las laut vor. „Näherinnen in Deutschland gesucht. Beste Arbeitsbedingungen und Lohn. Und die Telefonnummer.“
„Genau, genau!“, rief Alwina begeistert. „Beste Arbeitsbedingungen und Lohn. Was willst du mehr? Und eine Arbeit in unserem Beruf!“ Sie zeigte energisch mit ihrem Zeigefinger auf den Boden. „Hier braucht uns doch niemand. Aber dort, dort wollen sie uns haben. Und deswegen, nichts wie hin!“
Sofia sah sie nachdenklich an. „Ich, ich kann nicht so recht an die Sache glauben. Es klingt für mich gar zu gut!“
„Wie bitte? Wie bitte? Es klingt zu gut?“ Alwina konnte es nicht fassen. „Soll es etwa schlecht klingen?“ Sie sprang auf und hob wieder den Zeigefinger. „Deshalb will ich doch da hin: Weil es so gut klingt!“
Sie sahen sich einen Moment schweigend und verständnislos an.
„Ich, ich verstehe dich nicht, Sofia!“, rief Alwina dann aus. „Ich biete dir eine Chance aus diesem Mist hier herauszukommen und anstatt, dass du dich freust, machst du eine Trauermiene und zerstörst auch noch meine gute Laune und meine Hoffnungen!“ Sie fasste sich ärgerlich an den Kopf.
„Entschuldige, das tut mir ehrlich leid!“, begann Sofia vorsichtig. „Es ist halt nur …“
„Was, was ist nur?“ Alwina sah sie herausfordernd an.
„Na ja, wie ich schon sagte!“, begann sie und sah Alwina prüfend an. „Es klingt alles so toll.“ Sie atmete tief durch. „Aber man hat auch schon Anderes gehört!“
„Anderes, was meinst du?“ Alwina runzelte gespannt die Stirn.
„Man hat schon oft gehört, dass Mädchen tolle Arbeitsstellen angeboten wurden und am Schluss landeten sie in der Prostitution und arbeiteten praktisch umsonst. Wenn sie Glück hatten, wurden sie dann irgendwann völlig kaputt wieder nach Hause geschickt. Wenn nicht, was weiß ich, was dann mit ihnen geschah?“
„Ach das, jetzt verstehe ich dich!“, rief nun Alwina scheinbar gleichgültig aus, wurde dann aber ernst. „Ja, ja, da hast du natürlich Recht, das ist schon oft geschehen!“
„Du weißt davon?“
„Klar, jeder weiß das!“, betonte Alwina. „Und stell dir vor, aus diesem Grund habe ich die Sache hier genau geprüft.“
„Geprüft?“
„Ich habe mich nach Mädchen erkundigt, die genau auf diese Annonce geantwortet haben und jetzt in Deutschland bei dieser Firma arbeiten.“
„Echt?“
„Aber sicher!“ Alwina nickte selbstsicher. „Ich kann dir Namen und Adressen nennen und dir ein Gespräch mit den Eltern dieser Mädchen, die auf diese Annonce geantwortet haben, vermitteln. Die Leute sind alle begeistert. Gute Arbeit im Beruf als Näherin, gute Arbeitsbedingungen, gute Löhne. Die Mädchen schicken jeden Monat ordentliches Geld nach Hause. Glaub mir, da ist alles in Ordnung. Wer arbeiten will, der ist hier völlig richtig!“
Sofia war baff. „Ja, dann!“, überlegte sie. „Dann ist das ja vielleicht doch der Ausweg aus unserer Not.“
„Das ist er sicher, das kannst du mir glauben!“, versicherte Alwina. „Ich jedenfalls werde mir diese Chance nicht entgehen lassen. Und ich wollte dich als meine beste Freundin nicht hier versauern lassen.“
„Lieb von dir!“, strahlte Sofia Alwina dankbar an.
„Ich habe morgen früh um zehn Uhr einen Termin mit dem Vermittler im Kaffee Halici. Kommst du mit?“
„Klar komme ich mit, was denn sonst!“, Sofia sprang auf.
„Check ein!“, meinte Alwina und die beiden Mädchen schlugen vor Aufregung und Glück die Hände zusammen.
5
„Hast du schon wieder gesoffen oder was?“, fragte Tom beschämt, als er die Küche betrat und seinen Vater zusammengesackt am Küchentisch sitzen sah, vor ihm standen einige Bierflaschen.
Der Vater hob schwerfällig den Kopf und sah ihn aus glasigen Augen dumm starrend an. „Wenn schon, was geht´s dich an? Und was interessiert`s dich, wo dich sonst nichts interessiert?“ Er warf ihm einen bösen Blick zu.
Tom sah ihn vorwurfsvoll an. „Ist eben kein schöner Anblick, wenn man seinen Vater besoffen sieht. Beschämend eben, einfach beschämend!“
Sie starrten sich eine Weile wütend an.
„Du bist der gleiche Schwächling wie dein Großvater einer war!“ Er nahm die Flasche und lachte. „Der war auch ein Schwächling.“
„Du kannst mir nichts weismachen. Großvater war ein Ehrenmann, ein Vorzeigemensch in jeder Beziehung! Unsere Familie war hoch geachtet in unserem Dorf, so war das damals!“
„Ein Schwächling, sage ich!“, schrie ihn der Vater an. „Immer krank war er und immer nur am Jammern!“
„Aber unsere Familie war geachtet. Großvater wusste sich zu benehmen. Du hast mit deinem Benehmen den Ruf unserer Familie im Dorf komplett ruiniert!“
„Halt dein freches Maul, du ungezogener Bengel!“ Er stand auf, um Tom zu drohen, denn er wusste, dass er ihn nicht mehr schlagen konnte, so wie früher, als er noch ein Junge war. Aber er sackte eh vor Schwäche wieder in sich zusammen.
„Und du bist schuld, dass Mutter sich das Leben nahm!“, bohrte Tom weiter, weniger um den Vater zu provozieren, als aus aufkeimendem Zorn.
„Halt jetzt dein ungezogenes Maul!“, lallte der Vater wieder. „Was fällt dir ein? Ich, ich …!“ Aber weiter kam er wieder nicht, dann rutschte sein Kopf von seiner Faust, mit der er diesen abgestützt hatte, herunter und knallte auf den Tisch. Ein leiser Laut des Schmerzes, dann stützte er sich wieder ab, zog sich am Tisch hoch und stand auf.
„Deine Sauferei ist schuld, dass Mutter sich erhängt hat!“
Er hatte sie in der Scheune gefunden, als er im Teenageralter war. Er wusste, dass er diesen Anblick nie vergessen würde. Und er wusste, wer an allem schuld war. Zorn durchfuhr ihn gegen diesen dumpfen, rücksichtlosen Egoisten.
„Oh!“, brummte der Alte nur, taumelte zum Treppengeländer, an dem er sich schnell festhielt, um nicht hinzufallen. Er beachtete Tom gar nicht und zog sich nach oben.
„Du Schwein!“, rief ihm Tom angeekelt hinter her. „Du versoffenes Schwein!“
Der Alte reagierte nur mit einer abfälligen Handbewegung.
Eine wohlbekannte Ohnmacht überfiel Tom, die Ohnmacht, im Recht zu sein, alles richtig machen zu wollen, das Richtige tun und leben zu wollen und nicht zu können, weil dieses versoffene Schwein im Weg stand und es verhinderte.
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