„Sam, warte. Du weißt, du sollst nicht weglaufen, sonst machst du alles nur noch schlimmer“, rief Jacob hinter mir her und sofort blieb ich wie angewurzelt stehen. Allein ihr Kichern und die Ungewissheit, was nun passieren würde, brachte mein Herz heftig zum Schlagen.
„Na, Sam, wie ist es, der Arsch der ganzen Schule zu sein?“, fragte mich Ben rhetorisch und lachte laut auf. Nun waren sie bei mir. Ich hatte schon geglaubt, den Tag unbeschwert überstanden zu haben, da ich mich schon auf dem Heimweg befunden hatte. Immer wenn die Glocke ertönte, die unseren Unterricht beendete, tat ich so, als würde ich noch länger brauchen, meine Schulsachen einzupacken, damit meine Mitschüler in der Garderobe vor dem Klassenzimmer für ein wildes Getümmel sorgten. Während sie also alle damit beschäftigt waren, Jacken und Schuhe anzuziehen, sprang ich schnell in meine Schuhe mit Klettverschluss und stürmte durch die Menge. So ging ich Jacob und Ben aus dem Weg und es fiel ihnen einige Tage gar nicht auf, dass ich auf dem Weg nach Hause gar nicht mehr zu sehen war. Doch nun hatten sie wohl auch diese Taktik durchschaut …
Ben schlang einen Arm um mich und nahm mich in den Schwitzkasten: „Ich sagte: Wie ist es, der Arsch der Schule zu sein?“
In solchen Momenten fällt mir immer wieder der Spruch meiner Mutter Mia ein. Der letzte Satz den ich von ihr hören sollte, als würde er mein Leben leiten:
„Versprich mir jetzt, dass du keine halben Sachen mehr machst.“
Obwohl der Satz nicht einmal für mich bestimmt war, wusste ich, dass ich ihn auch befolgen musste.
„Einfach nur geil“, keuchte ich hervor und versuchte, mich aus seinem Griff zu lösen.
„Hey, der Kleine will sich wehren“, kicherte Jacob und klopfte seinem kräftigen Freund auf den Rücken. Mit einem Ruck riss mich Ben auf den schmutzigen Boden.
„Ich hoffe, du fühlst dich jetzt besser, Ben“, schimpfte ich und versuchte, mich wieder hochzudrücken, doch das enorme Körpergewicht von Ben erlaubte es mir nicht. Er wog mindestens fünfzehn Kilo mehr als ich.
„Los, wirf den Rucksack her!“, rief Jacob und wedelte mit den Armen.
Ehe ich mich‘s versah, wurde mir mein Rucksack gewaltsam entrissen und flog in hohem Bogen durch die Luft, als wäre er ein Spielball.
Nachdem Jacob ihn geschickt aufgefangen hatte, musterte er ihn, als würde er solch einen Rucksack zum ersten Mal sehen.
„Wollen doch mal sehen, was deine Mami zu essen eingepackt hat.“
Jacob konnte das mit meiner Mutter nicht wissen, doch Ben wusste darüber Bescheid. Selbst für seine Verhältnisse war es nun unangebracht zu lachen, also lächelte er nur, um nicht aus der Rolle zu fallen.
„Gib ihn wieder her, Jacob!“, flehte ich, obwohl ich eigentlich einen Befehl hatte aussprechen wollen.
Ohne auf meine Worte zu reagieren, wühlte er ein paar Schulhefte hervor. Kurzzeitig sah er sie an und ließ eines nach dem anderen fallen.
Mit aller Kraft versuchte ich, mich aufzurichten, doch Ben schlug mir ein paar Mal zwischen die Rippen, sodass ich keuchend wieder zu Boden sackte.
Nun beschleunigte Jacob sein Spiel, indem er meinen Rucksack kopfüber ausleerte, bis jedes einzelne Utensil den Boden fand.
„Ihr miesen Arschlöcher.“
Endlich gelang es mir, ein wenig bedrohlich zu klingen.
Nun erreichte auch der Rucksack den Boden und Jacob wandte sich von uns ab.
Mit dem Blick über die Schulter sagte er noch: „Das reicht. Lass den Schwächling laufen.“
Und mit einem letzten Tritt wurde ich in Ruhe gelassen.
So vergingen die Schuljahre und ich schaffte es nie, meine Peiniger loszuwerden. Wenn ich mich an die Lehrer wandte, hatte ich vielleicht ein oder zwei Wochen Ruhe, doch dann schien es so, als wollten sie ihre verlorene Zeit wieder nachholen.
Mit den Jahren schienen sie auch immer weniger Rücksicht zu nehmen und nur selten versuchte ich, mich ordentlich zu wehren.
In der siebten Klasse traf ich dann auf Grace Havering. Sie war erst vor kurzem in unsere Straße gezogen, als sie dann in meine Klasse kam. Es war für sie nicht leicht, die Neue zu sein und meine Klassenkameraden machten ihr diese Aufgabe noch schwerer. Sie drangsalierten sie, indem sie ihr immer wieder vorhielten, wie peinlich und hässlich sie sei. Vielleicht taten sie das aus Neid, denn ich fand nicht, dass sie hässlich war. Um ehrlich zu sein, fand ich sie wunderschön. Gut, die Wahl ihrer Kleider war schlicht, aber ich gab nicht sehr viel auf eine besondere Garderobe. Das Schönste an ihr waren die nussbraunen Haare und Augen. Manchmal, wenn sie in meiner Nähe war, sog ich ihren Geruch ein, und bekam ein ganz unruhiges Kribbeln in der Magengrube.
Es war verrückt: Im Grunde kannte ich sie doch gar nicht, woher kam dann dieses Interesse? Dieser Drang, mehr über diesen Menschen erfahren zu wollen. Etwas in mir sagte, dass dieser Mensch für mich bestimmt war. Anders als die anderen. Mehr wie ich.
Nachdem sie ein paar Monate in unserer Klasse war, kam sie auf mich zu und fragte nach meinem Namen und wie es mir geht. Es war ungewohnt, sich mit einem Mädchen zu unterhalten. Ich wusste nie wirklich, was ich sagen oder wie ich reagieren sollte. Nach einer Weile beschloss ich, einfach ich selbst zu sein. So funktionierte es am besten. Ihre Zuneigung war ein sehr neues und ungewohntes Gefühl, doch es kam mir bekannt vor, als hätte ich das ganze schon einmal vor langer Zeit erlebt. Ich genoss es sehr.
Zuerst redeten wir nur in der Pause und zwischen den Stunden. Ich erfuhr, dass sie nach Jackson gezogen war, weil ihre Mutter zum zweiten Mal geheiratet hat und ihr neuer Vater hier ein Haus besaß. Sie mochte die Farbe blau und hatte Angst vor Käfern, oder besser gesagt vor jedem Tier, das mehr oder weniger als vier Gliedmaßen besitzt. Sie trank gerne Kaffee, obwohl ihre Mutter das nicht duldete und ich fand, dies passte zu ihr, wegen ihrer braunen Haare und Augen. So nervös, ich am Anfang in ihrer Nähe auch war, nach einer Zeit gewöhnte ich mich an ihre Anwesenheit und wurde ruhiger.
Doch irgendetwas sagte mir, dass sie etwas verbarg. Ein Geheimnis. Nicht, dass sie mich anlog, aber sie zeigte mir nicht ihr wahres Ich, dessen war ich mir sicher. Vielleicht war sie einfach nur besonders schüchtern oder sie brauchte einfach noch ein wenig Zeit, um aus sich herauszukommen. Immerhin erzählte ich ihr auch nicht von meinem Aufenthalt in der Klinik, geschweige denn von meinem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch. Ich denke, es gibt auch Geheimnisse, die man tatsächlich nie irgendjemandem erzählen kann. Geschichten, die man mit ins Grab nimmt.
Dennoch, mein Misstrauen vergrößerte sich, als ich die schadenfrohen Blicke meiner Klassenkameraden sah. Vielleicht fanden sie unsere Freundschaft lächerlich, obwohl es mit vierzehn Jahren nichts Ungewöhnliches sein sollte, eine Freundschaft mit einem Mädchen zu führen. Misstrauen oder nicht, wir verbrachten weiterhin Zeit miteinander.
Nach knapp drei Monaten fand ich es enttäuschend, dass zwischen uns immer noch eine kühle Distanz bestand. Hin und wieder fing sie sogar an, sich von mir zu distanzieren und plötzlich von einem Tag auf den anderen gab sie mir wieder mehr Interesse. Ich dachte viel darüber nach, warum sie das tat, aber letztendlich kam ich zu keinem Ergebnis. Irgendwann beschloss ich, alles auf eine Karte zu setzen.
„Keine halben Sachen“
Ich wollte sie fragen, ob sie meine Freundin werden will. Schließlich hatte sie sich dann zu entscheiden. Selbst wenn sie „nein“ wählen würde, dann hätte ich wenigstens Gewissheit.
Anfangs wollte ich es gleich vor der ersten Stunde versuchen, doch ich bekam einfach nicht den nötigen Mut zusammen. Wie genau sollte ich es sagen?
Willst du meine Freundin werden?
Willst du mit mir „gehen“?
Oder sollte ich ihr vielleicht vorher sagen, wie sehr ich sie mag? Erhöhe ich dadurch die Chancen, ein „Ja“ von ihr zu ergattern?
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