Elijah schüttelte den Kopf.
„Gut dann. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Amelie daher hochinfektiös. Sollte sie also ungeschützt angeschafft haben, werden demnächst ein paar Fälle beim Gesundheitsamt gemeldet. Vielleicht kommen wir aus der Richtung dann an jemanden heran, der mit Amelie zu tun hatte.“ Mattheis deutete auf ein Foto von der Obduktion. „Und dann haben wir noch die alten Narben, die-“
„Alte Narben?“
„An ihrem Unterarm, hier, über dem Handgelenk. Von einem sehr scharfen Messer oder einer Rasierklinge. Längs, nicht quer. Zwischen zwei und vier Jahre alt, meint unser Medizinmann.“
„Längs, nicht quer“, sagte Elijah.
„Ja, sie hat es ernst gemeint damals. Hat Jankowsky Ihnen nichts von den Narben gesagt?“
Elijah schüttelte den Kopf.
„Sie müssen später entstanden sein, nach Amelies Verschwinden“, sagte Mattheis. „Ich habe Jankowsky natürlich gefragt, er sagt, Amelie hätte früher keine solchen Narben gehabt.“
„Nach ihrem Verschwinden haben wir Blut von Amelie gefunden, eingesickert im Boden“, sagte Elijah. „Die KTU meinte damals, es wäre sehr viel Blut, fast zu viel, um es zu überleben. Später hat die Kollegin präzisiert, es wäre möglich gewesen, aber wohl nur mit sofortiger Hilfe.“
„Die Amelie offensichtlich bekommen hat.“
„Kein Zweifel.“
Elijah guckte auf den linken Arm mit der Spritze, auf den rechten mit den Narben und dachte kurz darüber nach. Dann lehnte er sich wieder zurück und sagte, „Jankowsky hat meiner Kollegin heute Morgen gesagt, ihr habt Amelie im Bahnhofsviertel gefunden. Sie hätte dort auf der Straße angeschafft. Das hat mich überrascht, ich dachte, der Straßenstrich wäre aus dem Viertel raus.“
Mattheis nickte und nahm eine Straßenkarte in Plastik geschweißt vom Regal und hielt sie hoch. „Unser Rotlichtviertel ist hauptsächlich hier: Taunusstraße, Elbestraße, Moselstraße.“ Sein Finger huschte über die Karte. „Amelie haben wir in der Elbestraße gefunden, genau ... hier. Und wie sie aussah, wie sie gestorben ist, sind wir davon ausgegangen, dass sie dort auch angeschafft hat. Was uns selbst überrascht hat, denn das Gebiet ist absolutes Sperrgebiet, und die Frauen halten sich auch daran. Na ja, meist.“ Er legte die Karte zurück. „Das Haus, in dem Amelie lag, ist ein reines Wohnhaus, kein Bordell, auch kein Mischhaus, das heißt es gibt dort auch keine Laufwohnungen, die von Prostituierten genutzt werden. Und die Haustür hat ein stabiles, gut funktionierendes Schloss. Niemand kommt da rein, der keinen Schlüssel hat oder dem von drinnen nicht geöffnet wird. Ein sauberes Haus. Sie haben ja das Foto gesehen.“
„Wer hat Amelie gefunden?“
„Eine Anwohnerin.“
Elijah sagte, „Todeszeit zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens am dritten Februar?“, und als Mattheis nickte, „Wann wurde Amelie entdeckt?“
„Gegen sieben. Die Anwohnerin wollte sich gerade auf den Weg zur Arbeit machen.“
„Dann hat sie den Schock ihres Lebens bekommen.“
„Nein, die nicht. Die Frau ist Krankenschwester.“ Mattheis sagte, „Wir sind am nächsten Tag zurück, Elli und ich“, Kopfnicken nach nebenan zu der Dunkelhaarigen, die jetzt aber nicht mehr an ihrem Schreibtisch saß; der Anruf musste wichtig gewesen sein, „und haben die anderen Hausbewohner befragt. Auch die Krankenschwester natürlich. Niemand hatte das Mädchen je zuvor gesehen.“
„Am nächsten Tag bereits? Warum die Eile? Sie hatte eine Überdosis, vermutlich kein Fremdverschulden, dann die alten Narben ...?“
„Wir sind von einer Überdosis ausgegangen, ja. Wir hatten noch keine Bestätigung vom Gerichtsmediziner, und normalerweise hätten wir auch seinen Bericht abgewartet, bevor wir irgend was gemacht hätten“, sagte Mattheis. „Aber wie ich bereits am Telefon erwähnte, bei Amelie passt einiges nicht zusammen.“
„Wenn wir eine unbekannte Tote haben“, sagte Mattheis dann und rutschte tiefer in seinen Stuhl, „bevor wir in Inpol suchen, sehen wir natürlich als erstes nach, ob wir die Tote bereits einmal hier hatten ... also, hier bei uns im Haus, als sie noch lebte. Denn dann wäre sie auch bei uns im Computer. Haben wir bei Amelie natürlich auch gemacht. Aber sie war nicht im Computer. Gut, zunächst haben wir gedacht, ist sie eben bei unseren Kontrolltagen durchs Netz gefallen, kommt vor, sowas. Wir gucken hier hauptsächlich nach nicht angemeldeter Prostitution in Wohnungen, in Bordellen, nach Ausländerinnen ohne Aufenthaltsgenehmigungen aus Osteuropa, Afrika, Thailand, Lateinamerika. Natürlich immer auch nach Jugendlichen. Aber unsere Tote war blond, sah deutsch aus – uh, vor Gericht darf ich das nicht sagen, die nehmen mich auseinander. Also, nur unter uns: sie sah deutsch aus. Und älter als zwanzig Jahre ...“. Er zuckte mit der Schulter. „Wir haben hier alleine in den Bordellen mehr als Eintausend Frauen. Konnte also gut sein, dass sie uns durchgerutscht ist. Aber dann habe ich ihr Foto den Straßenkollegen gezeigt, also denen von uns, die tatsächlich jeden Tag auf der Straße unterwegs sind. Aber auch von denen kam nur Kopfschütteln. Und die kennen jedes Gesicht.“ Er legte den Rest seines Brötchens hin, wischte wieder seine Finger am Papier. „Wie gesagt, wir haben sie dann in Inpol gefunden, aber das andere hat uns stutzig gemacht. Deshalb sind wir zurück. Und nachdem auch keiner der anderen Hausbewohner die junge Frau je gesehen hat, haben wir ausgeweitet und im Viertel rumgefragt. Und wissen Sie was?“
„Ohne Ergebnis?“
„Genau. Amelie wurde seit zwei Jahren vermisst. Und niemand hier kannte sie?“
„Sie kann in anderen Städten gewesen sein“, sagte Elijah.
„Kann, stimmt. Ist aber ganz selten so. Erfahrungswerte. Jugendliche, die von zuhause weglaufen und in irgendeiner Stadt hängen bleiben und dort in der Prostitution landen, bleiben in dem meisten Fällen auch in dieser Stadt. Besonders in einer Stadt wie Frankfurt, die viel zu bieten hat. Es gibt keine Wanderbewegungen zwischen den Städten. Bei Callgirls, die mehrere Hundert Euro pro Stunde verdienen, ja. Frauen im höheren Bordellsegment, klar. Aber nicht Jugendliche und definitiv nicht die Frauen vom Straßenstrich. Die bleiben zuhause, sozusagen. Ich hab gar nicht gefragt, ob Sie Milch und Zucker für Ihren Kaffee wollen.“
Elijah schüttelte den Kopf.
„Oder vielleicht ne Salbe für Ihren Ellbogen, den Sie sich da dauernd reiben? Ich hab was hier, hat mir mein Arzt verschrieben für meine Knie. Mit Cortison.“
„Schon gut, das hab ich öfter“, sagte Elijah. „Zwei Tage, dann ist das weg.“
„Hab ich früher auch immer gesagt, heute nicht mehr. Aber wie Sie wollen, ist ja Ihr Ellbogen. Falls Sie es sich anders überlegen, die Tube liegt nur einen Handgriff entfernt in der Schublade hier.“ Mattheis nahm wieder vom Kartoffelsalat und kaute. „Herr Leblanc, ich muss Ihnen sagen, so gut habe ich nicht mehr gefrühstückt, seit meine Frau zu meinem Kumpel gezogen ist.“
„Ihre Frau zu ...? Oh Mann“, sagte Elijah, „das ist hart.“
„Dass meine Frau zu meinem Kumpel gezogen ist? Scheiße, nein. Vorher ist er immer zu uns nach Hause gekommen, während ich im Dienst war, das war hart.“ Mattheis trank und sagte, „Aber ich bin darüber hinweg. Wir hatten uns eh auseinandergelebt.“
„Na“, sagte Elijah, „das macht die Scheidung etwas erträglicher, könnte ich mir vorstellen.“
„Die Schei-? Nein, ich meinte, mein Kumpel und ich, wir hatten uns auseinandergelebt.“ Mattheis sagte, „Egal. Jemand im Viertel hätte Amelie kennen müssen, irgendjemand. Aber niemand kannte sie. Und wissen Sie was? Wir haben dann sogar in der Toleranzzone gefragt, Straßenstrich, Theodor-Heuss-Allee.“ Er nickte hinter sich auf die Karte. „Aber auch da: Nichts. Null. Aber einige der Zuhälter sind glatt ausgeflippt, als sie gehört haben, wie alt die Amelie war. Offensichtlich gibt es unter denen gerade eine Abmachung, nicht jünger als achtzehn. Damit sie mit uns mal wenigstens eine Weile lang keine Probleme bekommen.“
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