„Ronnys Vater ist Anwalt?“
„Arzt ist er, Orthopäde mit eigener Praxis. Auf den Sohn hat das nicht abgefärbt. Ich habe Ronny vor einer Weile in der Stadt gesehen, vor einem dieser Fitnessstudios. Ich sage Ihnen, du meine Güte. Noch mehr Muskeln, und jetzt auch Tattoos auf den Armen bis zum Hals hoch. Als ich ihn gesehen habe, hat Ronny telefoniert. Er hatte Probleme, das Telefon gegen sein Ohr zu drücken, so dick war sein Arm. Wie eine Pampelmuse. Furchtbar.“
Auf der Fahrt hatte Elijah darüber nachgedacht, aber er wusste, es gab nicht den richtigen Zeitpunkt, also sagte er, „Frau Bennett, hat Jankowsky mit Ihnen über den Obduktionsbericht gesprochen?“
Sie nickte ohne zu zögern.
„Dann hat er ... Also, dann hat Jankowsky Ihnen auch von den Narben an Amelies Arm erzählt?“
Sie atmete ein und aus und nickte wieder.
„Die Narben“, sagte Elijah, „glauben Sie, Amelie konnte so verzweifelt über das Ende ihrer Beziehung zu diesem Ronny gewesen sein?“
Sie zögerte, und Elijah sagte, „Ich kann verstehen, wenn Sie-“
„Ich muss nur über Ihre Frage nachdenken, Herr Leblanc. Geben Sie mir die Zeit. Wir können darüber sprechen.“ Nach einem Moment sagte sie, „Ich halte es für möglich. Sie schien mir sehr verliebt damals ... Dieser Ronny, sechs Jahre älter, in ihren Augen schon erwachsen. Eigenes Auto, vor Selbstbewusstsein strotzend, aus gutem Haus. Mit dem konnte sie angeben. Nicht, dass Amelie gerne angegeben hätte, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber Sie wissen, was ich meine. Junge Mädchen mit einem älteren Freund ... das wäre bei mir nicht anders gewesen. Und wenn es dann auseinandergeht ... Ja, ich könnte es mir vorstellen.“
„Wissen Sie, ob Jankowsky noch einmal mit Ronny gesprochen hat? Ich meine, jetzt, nachdem Amelie gefunden wurde?“
„Jankowsky?“, sagte sie. „Das weiß ich nicht. Und wenn, dann hat er nichts herausgefunden, sonst hätte er es mir erzählt. Sie hätten etwas herausgefunden, Herr Leblanc. Sein Mitarbeiter vielleicht auch, der Herr Niehring, dahinten steht er. Der hat mehr Biss. Aber der durfte ja nicht.“
Elijah sah sie an. „Was meinen Sie, Der durfte nicht?“
Sie verschränkte die Arme und ihre Hände verschwanden unter den Ärmeln ihres Mantels. „So hat er mal zu uns gesagt, auf dem Revier. Im Büro. Sagt man heutzutage noch Revier? Polizeirevier? Ich weiß nicht. Also, Jankowsky war nicht da, daher hat der Herr Niehring uns empfangen. Aber sprechen wollte er nicht mit uns. Wir sollten zurückkommen, wenn Jankowsky wieder da wäre. Sein Chef würde die Untersuchung leiten, hat Herr Niehring gesagt, mit eiserner Hand. Damit meinte er, Jankowsky würde jede Befragung selbst machen. Jede. Und nur Jankowsky würde Auskunft zum Stand der Untersuchung geben, niemand sonst, basta. Niehring war darüber sehr verärgert, wir haben ihm das nicht nur angemerkt, er hat es auch so gesagt. Also, er hat nicht gesagt, er wäre verärgert, sondern: es kotze ihn an. So hat er gesagt. Wir sind dann später zu Jankowsky, und danach noch ... ich weiß nicht, zwanzig Mal. Und haben immer dieselbe Antwort von ihm bekommen. Wen er alles befragt hätte damals, was er alles angestellt hätte.“ Sie sagte, „Aber vielleicht fragen Sie ihn selbst ja noch einmal. Jankowsky, meine ich.“
„Das werde ich tun, Frau Bennett.“
Sie sah hoch zu ihm. „Tatsächlich? Heißt das ... das heißt also, Sie ermitteln in Amelies Fall wieder?“
Elijah hatte die Frage erwartet und wollte in der Situation entscheiden, was er antworten würde, und das tat er. Sie hatte es verdient. „Es gibt ein paar Dinge, die bei Amelie nicht zusammenpassen, Frau Bennett“, und er sah, wie sie erwartungsvoll ihre Augenbrauen hob. „Und denen möchte ich auf den Grund gehen. Ich habe aber die Bitte, sprechen Sie mit niemandem darüber. Offiziell ermittele ich nicht. Das ist Sache der Frankfurter Kripo. Und von Jankowsky.“ Er sagte, „Und nur um das klarzustellen: Auch damals haben wir nicht ermittelt. Wir waren zwei Mal hier, kurz, jeweils nur zwei Stunden. Beide Male auf Bitten Jankowskys. Beim ersten Mal haben wir uns die Ermittlungsakten angeguckt und mit Ihnen gesprochen, Frau Bennett. Beim zweiten Mal waren wir am Fundort von Amelies Shirt, in Nells Land? Und haben die Spuren gesichert. Danach hatte ich noch ein kurzes Gespräch mit Ronny. Das war alles.“
„Nells Ländchen.“
„Ländchen? Okay, dann Nells Ländchen eben. Was ich meine, wir haben nie ermittelt.“
Sie sagte, „Warum eigentlich nicht?“
„Weil es sich bei Amelies Verschwinden nicht um eine Serie handelte.“
„Serie? Was meinen Sie damit?“
Elijah überlegte und sagte, „All die furchtbaren Dinge, die ein Mensch einem anderen zufügen kann, die kann dieser eine Mensch auch mehreren anderen Menschen zufügen. Das nennen wir dann eine Serie.“
„Sie wollen meine Gefühle nicht verletzen, deshalb sprechen Sie so verklausuliert. Sie meinen Vergewaltigung? Mord? Sprechen Sie deutlich, Herr Leblanc, für alles andere habe ich keine Geduld mehr.“
„Vergewaltigung. Tötungsdelikte. Raub.“ Elijah sagte, „Kindesmissbrauch. Nur wenn es sich um eine Serie handelt, kann es ein Fall fürs BKA werden. Und nur, wenn es eine Leiche gibt, wird es ein Fall für meine Kollegin und mich.“
„Sie sind hier“, sagte sie. „Amelie ist tot. Es gibt ... eine Leiche. Amelies Leiche. Also glauben Sie jetzt an eine Serie? Und ermitteln?“ Als sie keine Antwort bekam, „Was, Herr Leblanc, passt bei Amelie nicht zusammen?“
„Die Situation hat sich mit dem Auftauchen von Amelie grundlegend geändert, Frau Bennett, das stimmt. Nur, was ich glaube und was ich belegen kann, das sind zwei unterschiedliche Dinge. Aber ja, ich halte jetzt eine Serie grundsätzlich für möglich. Was genau bei Amelie nicht zusammenpasst, die Einzelheiten, darüber kann ich jetzt ... Ich kann darüber jetzt noch nicht sprechen.“
Sie war still.
„Aber ich habe zwei Fragen, Frau Bennett, die Sie mir vielleicht beantworten können.“ Elijah wartete.
„Fragen Sie. Fragen Sie.“
„Amelie“, sagte Elijah, „können Sie mir sagen, ob Amelie an China Interesse hatte? Shanghai vielleicht?“
„Shanghai? China?“ Sie musste nicht nachdenken. „Nein, das kann ich ausschließen. Amelie hatte kein Interesse an fernen Ländern, nicht an China und nicht an anderen Ländern oder Städten. Warum? Was hatte Amelie mit Shanghai zu tun?“
„Haben Sie oder Ihr Mann Kontakte nach Shanghai? Oder in eine andere Stadt in China?“ Sie schüttelte den Kopf. „Oder Verwandte von Ihnen, vielleicht Amelies Onkel oder ihre Tante? Sie haben damals gesagt, Sie und Ihr Mann hätten Geschwister. Haben die vielleicht Kontakte nach China?“
„Nein, niemand von uns hat jemals irgendetwas mit China zu tun gehabt. Was sollen diese Fragen über China? Was hat Amelie mit China zu tun? Mit Shanghai?“
Elijah erzählte ihr von dem Foto, was darauf zu sehen war, dass er nicht wusste, wer es ihm geschickt hatte und bat sie noch einmal um Verschwiegenheit.
„Ich erzähle niemandem etwas“, sagte sie. „Sie müssen Ihre Gründe haben, denke ich.“
Elijah nickte.
„Das waren deutlich mehr als zwei Fragen“, sagte sie.
„Trotzdem habe ich noch eine“, sagte Elijah. „Das Fitnessstudio, wo Sie diesen Ronny gesehen haben. Wo ist das?“
Ihre Augenbrauen zuckten nach oben. „Haben Sie ... Sie wollen ihn fragen, warum er nicht auf Amelies Beerdigung war?“
„Unter anderem“, sagte Elijah. Und sah tatsächlich jetzt ein schnelles Lächeln über ihr Gesicht huschen.
Sie nannte ihm einen Straßennamen und sagte, „Sie wissen, wo der Hauptmarkt ist?“
„Ich stamme aus Trier“, sagte Elijah, „ich weiß, wo der Hauptmarkt ist.“
„Hab ich gar nicht gewusst, dass Sie von hier kommen. Sie wussten nicht, dass es Nells Ländchen heißt.“
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