„Nur VMs, ich habs kapiert. Wo bist du jetzt?“
„Höhe ... irgendwas. Wittlich. Halbe Stunde oder so, dann bin ich da.“
„Gut.“ Sie sagte, „Eschenbach war heute Früh bei mir. Er hat nach dir gefragt.“
„Und?“
„Ich hab ihm gesagt, wo du bist. Erst in Frankfurt, dann auf der Beerdigung.“
„Natürlich hast du ihm gesagt, wo ich bin. Was hat er dazu gesagt?“
„Nicht viel. Hat rumgegrummelt und ist wieder gegangen. Du sollst dich bei ihm melden, wenn du zurück bist.“
Elijah sagte, „Vielleicht ist er doch nicht so schlimm und lässt uns längere Leine.“
„Vielleicht“, sagte Jo. „Irgendwie war er seltsam ... ich weiß nicht, angekratzt.“
„Angekratzt?“
„Er hatte bereits von unserer Festnahme gehört, Ashdani, daher der Zettel an deinem Bildschirm. Gratulation Frau König. Ich hab ihm gesagt, da hätte ich nichts mit zu tun, das wäre dein Verdienst, du hättest Ashdani erkannt, weil du ihn auf der Liste gesehen hast. Auf der Fahndungsliste. Und er: Zwei Festnahmen an einem Tag also, unser Leblanc . In so einem Ton ... nur so ein Gefühl. Ich fands angekratzt. Ich weiß nicht, als ob er es dir missgönnt. Ah, vielleicht auch nicht. Vergiss es.“
„Missgönnen kann er, kein Problem, solange er uns machen lässt“, sagte Elijah. „Wie wars mit Lukas?“
„Ich hab ihm Nudeln gekocht, mit Hackfleischsoße im Übrigen, und ich hab ihm erzählt, dass er mit dir mal zum Training gehen kann. Das hätte ich besser sein lassen, er war den ganzen Abend aufgedreht und hat mich über dein Training ausgequetscht.“
„Zeigt nur, dass er es ernst meint, das ist in Ordnung.“ Elijah sagte, „Du solltest ihn mal fragen, wie er heißt.“
Kurze Pause, dann sagte Jo, „Wie wer heißt?“
„Der Typ in der Schule, mit dem er Ärger hat.“
„Meinst du?“
„Frag ihn“, sagte Elijah.
„Werd ich.“ Sie war wieder einen Moment still. „Meinst du wirklich?“
„Frag ihn, dann weißt du's. Und apropos Training. Gielert sagt, es wäre Eschenbach gewesen, der seine Chefin gebeten hätte, ihn zu meinem Treffen mit George zu schicken. George hätte Eschenbach von dem Foto unterrichtet.“ Elijah sagte, „Ich habe vorhin mit George telefoniert, es stimmt. Anweisung vom neuen Chef FB KI13, alles in Kopie auch zu ihm, hat George gesagt.“
„Alles in Kopie auch zu ihm, holla. Das wird ihm eine Menge Arbeit bescheren. Sieht so aus, als wollte Eschenbach seine Handschrift bei uns hinterlassen. Ich sage dir, die Absicht dahinter ist Berlin. Da will er hin. Wir sollen ihm den Weg ebnen.“
„Von mir aus. Je schneller er weg ist umso besser.“
„Hör zu“, sagte Jo, „lass dich gleich zu nichts hinreißen. Jankowsky ist nur ein Arschloch.“
„Das hast du bereits gesagt“, sagte Elijah.
„Ich kann dir das nicht oft genug sagen.“
Elijah sagte, „Weißt du, was ich mich frage, Jo? Seit ich von Mattheis losgefahren bin?“, und er machte eine Pause, um noch einmal darüber nachzudenken.
„Was?“
„Wenn Amelie sich damals töten wollte ... sie hat sich das Handgelenk aufgeschnitten, und sie hat es ernst gemeint. Längs geschnitten, nicht quer. Sie hat viel Blut verloren.“
„Und?“
Elijah sagte, „Wie hat Amelie das überlebt?“
Die Beerdigung war, wie Beerdigungen an trüben Wintertagen sind. Elijah zählte zwanzig Jugendliche, wohl frühere Freunde und Klassenkameraden von Amelie, und noch einmal so viele Erwachsene, ältere, jüngere, alle in dicken Mänteln und Jacken; Onkel und Tanten, Nachbarn, Bekannte. Jeder, der sich verpflichtet fühlte.
Elijah hielt Abstand zu der Gruppe in einem Halbkreis vor dem Sarg und dem Pastor in seinem schwarzen Gewand, Gebetbuch aufgeschlagen in der einen Hand, mit der anderen darin blätternd. Elijah sah Amelies Eltern, Frau Bennett und ihr Mann, zwischen ihnen ein junges Mädchen, das die zweite Tochter sein musste, Amelies jüngere Schwester. Ihren Namen kannte er nicht, aber sie musste jetzt so alt sein wie Amelie bei ihrem Verschwinden. Außerhalb des Halbkreises an der Seite stand Jankowsky in seiner braunen Kordjacke und der blauen Wollmütze, da hatte sich nichts geändert. Fünf Schritte hinter ihm Niehring, sein Stellvertreter, der jetzt den Kopf drehte und Elijah zunickte. Elijah nickte zurück.
Bis auf die Jugendlichen in Jeans und Turnschuhen waren alle dunkel gekleidet, und niemand sprach, außer dem Pastor, der mittlerweile das Gebetbuch zugeschlagen hatte und routiniert seine Rede abspulte bis auf die eine Stelle, wo er Namen vertauschte und „unsere liebe Jessica“ sagte, weißer Hauch vor dem Mund. Aber niemand lachte. Auch dann nicht, als er behauptete, die Verstorbene wäre vom gütigen Herrgott aufgenommen worden.
Weit hinten sah Elijah eine zweite Beerdigung. Wenigstens schneite es nicht.
Dann war es vorbei. Die Jugendlichen stellten sich zusammen, Arme auf Schultern, zwei Erwachsene gingen hin und wurden in den Kreis aufgenommen. Lehrer vielleicht. Die anderen Erwachsenen standen zu dritt, zu viert in Grüppchen. Vielleicht sprachen sie über Amelie, vielleicht nicht. Vielleicht über das kalte Wetter oder das anschließende Essen im ‚Ochsen‘ oder im ‚Moselblick‘ oder wo immer es hinging und ob der Koch wohl ihre Allergien berücksichtigen würde.
Wen Elijah nicht sah, war Amelies Exfreund. Es wunderte ihn nicht, ärgerte ihn aber.
Amelies Mutter stand jetzt alleine, ihr Mann war mit der Tochter an der Hand zu den Jugendlichen gegangen; als hätte sie Mann und Tochter weggeschickt, so hatte es für Elijah ausgesehen. Frau Bennett, elegant in schwarzem Pelzmantel und Hut, schwarze Strümpfe, schwarze Stöckelschuhe, guckte zu Elijah und kam jetzt zu ihm.
„Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Herr Leblanc“, und reichte ihm sogar die Hand, mit festem Druck, die Hand schmal und sehr kalt. „Ich muss es auch gleich loswerden: Sie hatten Recht damals, und ich hatte Unrecht. Amelie war weggelaufen.“
„Ich habe Ihnen gesagt, Amelie taucht wieder auf. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen sich beruhigen.“ Elijah schüttelte den Kopf. „Ich hatte daher nicht Recht, Frau Bennett. Und es spielt ohnehin schon lange keine Rolle mehr, Recht oder nicht Recht.“ Er sagte, „Ihr Mann ...“
„Er kann nicht gut mit dem umgehen, was geschehen ist. Er glaubt, wir haben als Eltern versagt. Eine Meinung, die ich zu hundert Prozent teile. Dass Amelie weggelaufen ist, dass sie nicht das Gefühl hatte, sie konnte sich uns anvertrauen ... das ist unsere Schuld. Und meine noch mehr als die meines Mannes, als Mutter ...“
Es hörte sich an, als wollte sie noch etwas sagen, oder vielleicht wollte sie auch nur, dass Elijah etwas sagte. Aber ihm fiel nichts Tröstendes ein, und er hielt den Mund.
Sie sagte, „Mein Mann, er möchte mit niemandem über Amelie sprechen. Auch nicht mit Ihnen. Aber ich wollte mit Ihnen sprechen, deshalb habe ich ihn gebeten, mich alleine zu lassen.“ Sie nickte. „Sehen Sie sich die beiden an. Vater und Tochter Hand in Hand. In den vergangenen zwei Jahren hat er sich mehr denn je um Leonie gekümmert. Leonie ist jetzt vierzehn. Genauso alt wie Amelie war.“
„Amelie und Leonie“, sagte Elijah.
„Ja, das hörte sich immer so wunderschön an, wenn Besuch kam: Das sind unsere Töchter Amelie und Leonie.“ Sie sagte, „Gegenseitig haben sie sich immer Schwesterherz genannt. Nicht kleine Schwester oder große Schwester oder so. Schwesterherz. Süß, nicht?“
Elijah ließ einen Moment verstreichen. „Amelies Exfreund habe ich nicht gesehen“, sagte er dann. „Diesen Ronny.“
„Das ist auch besser so“, sagte sie. „Ich mochte ihn nie. Es schien ihn damals nicht im Geringsten berührt zu haben, als Amelie verschwand. Als die Polizei die Suche nach ihr einstellte. Er hat nie mit uns gesprochen, auf meine Anrufe hat er nicht reagiert. Und ich wollte doch gerne wissen, was zwischen ihnen geschehen war, ob ich etwas hätte tun können. Keine Antwort. Bis eines Tages dann sein Vater bei uns angerufen hat, der feine Herr, und meinte, ich sollte seinen Ronny in Ruhe lassen, er würde sonst eine Unterlassungsklage anstrengen.“
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