„Heute spielt Deutschland gegen Polen. Könnte knapp werden, die Polen haben einen sehr guten Torwart.“ Die sah irritiert zu ihm auf und runzelte die Stirn.
„Seit wann bitte hast du denn eine Ahnung von Fußball, Sedi?“ Er lächelte überlegen und sagte:
„Wenn du wüsstest, von was ich alles eine Ahnung habe!“ Jutta schüttelte den Kopf und widmete sich wieder ihrer Speisekarte. Nachdem sie bestellt hatten – Sedlmeyer ein Radler plus Chicken Burger und Jutta eine Apfelschorle mit Wiener Schnitzel – schlug er vor, im Anschluss noch das Fußballspiel anzuschauen. Jutta war einverstanden. Deutschland gewann das Spiel gegen Polen mit 2 : 0. Beide Tore schoss Lukas Podolski, das eine in der 20. und das andere in der 72. Minute. Er hatte nicht absichtlich daneben geschossen, wie sein Kölner Landsmann gestern noch im Biergarten prophezeit hatte.
Montag, 9. Juni 2008, 9:15
„Herrschaften! Spitzt mal bitte kurz die Ohren und hört mir zu!“ Sedlmeyer stand im Türrahmen seines Büros und sprach zu seinen Mitarbeitern.
„So wie es aussieht, haben wir einen laufenden Fall übertragen bekommen, nämlich die verschwundene Schülerin von vor drei Wochen. Sie wurde tot aufgefunden; Jutta und ich haben gestern die Fundortbesichtigung gemacht und Mommsen danach ein bisschen bei der Arbeit über die Schulter geschaut.“ Er sah in ein fragendes, ein ratloses und ein wissendes Gesicht. Jutta, der letzteres gehörte, sah kurz zu ihm auf und beschäftigte sich danach rasch wieder mit ein paar Blättern, die sie mit einem geräuschhaften Schlag auf einen Tacker zusammen heftete. Die beiden anderen in Sedlmeyer's Team sahen ihn an und warteten auf eine Erklärung. Roland Baumgartner, der eine von ihnen, biss noch einmal in die Nussschnecke, über die er sich gerade hergemacht hatte, während der andere, Roland Funke, seinen Kugelschreiber geistesabwesend zwischen Zeige- und Mittelfinger hin und her pendeln ließ. Baumgartner war einer von der Sorte gemütlicher Kumpel. Ein fast zwei Meter großer, ausgeglichener Niederbayer, der gerne lachte und sich beim Reden auf das Wesentliche beschränkte. Seine Frisur war der Haargewordene Beweis jeder Chaos-Theorie; dunkelblond, in alle Richtungen abstehend und von keinem Kamm der Welt in eine vernünftige Form zu bringen. Er war verheiratet, ein paar Jahre jünger als Sedlmeyer und so etwas wie der gute Geist des Teams, der in hektischen Situationen Ruhe und Besonnenheit ausstrahlte, mit jedem gut konnte und sich die Laune selten verderben ließ. Ganz anders Funke: er war ziemlich klein, lachte selten bis nie und wirkte immer ein wenig hektisch und verkniffen. Jutta hatte Sedlmeyer gegenüber einmal die Theorie aufgestellt, dass das damit zusammenhängen müsse, dass Funke dringend eine Frau benötige, während Sedlmeyer es auf dessen ausufernden Kaffeekonsum geschoben hatte. Im weiteren Verlauf dieses Gespräches hatte Jutta dann darauf hingewiesen, dass das mit der fehlenden Frau maßgeblich auf Funke's optische Erscheinung im allgemeinen und auf seinen peinlichen Schnurrbart im Besonderen zurückzuführen sei. Bei Sedlmeyer hatte sich dann in Sachen Frauen-Problematik im Lichte seiner eigenen Situation bald ein nagendes Unwohlsein eingestellt und er hatte schnell das Thema gewechselt. Funke war optisch in der Tat eine seltsame Kombination: sein schwarzer Schnurrbart war akkurat auf den Millimeter getrimmt, ebenso wie sein glattes, präzise gescheiteltes Haar, welches allerdings bereits merklich ergraut war, trotz seiner erst 31 Jahre. Er hätte ein bisschen ausgesehen wie das Abziehbild eines überarbeiteten Buchhalters, wären da nicht die schrillen Hawaii-Hemden und die Cowboy-Stiefel gewesen, die er immer trug. Womöglich hatte er früher einfach zu viele Folgen „Magnum“ gesehen. Sedlmeyer räusperte sich und fuhr fort mit seinen Erläuterungen:
„Ich warte noch auf eine Erklärung vom Widenmayer, warum er Jakubinski und seinen Leuten den Fall entzogen und uns auf's Auge gedrückt hat, aber es scheint einen guten Grund dafür zu geben. Ich werde gleich mal bei ihm anrufen und ihn bitten, uns seine Akten zur Verfügung zu stellen. Danach machen wir Besprechung, sagen wir um...“ Er sah auf seine Armbanduhr, „...zehn Uhr dreissig. Jutta, könntest du bitte checken, ob der Konferenzraum da noch frei ist? Schorschi, könntest du in der Zwischenzeit mal ein wenig über Wasserleichen recherchieren? Ich muss dich allerdings warnen, das ist ein ziemlich unappetitliches Thema!“ Mit „Schorschi“ war in diesem Fall Baumgartner gemeint. Zu Beginn ihrer aller Zusammenarbeit hatten sie schnell festgestellt, dass zwei Kollegen mit dem selben Vornamen ein schwerwiegendes praktisches Problem mit sich brachten. Sie hatten ein wenig hin und her überlegt, bis schließlich Baumgartner selber auf die Idee gekommen war, ihm doch einfach einen typisch bayerischen Spitznamen zu geben, passend oder nicht, schließlich käme er aus dem ursprünglichsten aller bayerischen Regierungsbezirke. Letzteres konnte Sedlmeyer als gebürtiger Münchner keinesfalls so stehen lassen, aber sie hatten sich dann trotzdem auf die bajuwarische Kurzform von „Georg“ geeinigt, obwohl das mit „Roland“ nicht das geringste zu tun hatte. Roland „Schorschi“ Baumgartner vernichtete als Antwort mit einem letzten Bissen den Rest seiner Nussschnecke und hob kauend den Daumen der rechten Hand. Sedlmeyer sah noch einen Moment lang in die Runde, dann klopfte er kurz an den Türrahmen und ging zurück in sein Büro.
In der verbleibenden guten Stunde bis zur Besprechung hatte er geplant, erst bei Jakubinski und dann bei Mommsen anzurufen. Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer; am anderen Ende ertönte ein brummiges „Ja?“ und Sedlmeyer begann, sein Anliegen vorzubringen:
„Guten Morgen Herr Jakubinski, hier ist Sedlmeyer. Ich ruf' an wegen ihres Falles bezüglich der vermissten Schülerin.“ Jakubinski war offenkundig ziemlich verstimmt, sein Sarkasmus troff zähflüssig aus dem Hörer:
„Morgen Sedlmeyer. Mein Fall? Ich kann mich gar nicht daran erinnern, einen solchen Fall gehabt zu haben? Sie müssen da was verwechseln, ich bin hier nur der Hausmeister.“ Sedlmeyer konnte ihm seine Frustration nicht verdenken. Er fuhr fort:
„Ich kann gut verstehen, dass Sie sauer sind. Ich versteh's ja genau so wenig. Sie wissen hoffentlich, dass ich damit nichts zu tun hatte und genau so überrascht war wie Sie, als uns der Fall übertragen wurde.“
„Passt schon, Sedlmeyer, Sie können ja auch nix dafür. Von mir aus können Sie den Fall gern übernehmen, viel Spaß werden Sie damit ohnehin nicht haben.“ Sedlmeyer war drauf und dran, zu antworten, dass ihm das beim Anblick der Leiche gestern auch schon aufgefallen sei, wollte dann aber nicht noch mehr Salz in die Wunde reiben. Stattdessen beschränkte er sich auf's Geschäftliche:
„Das ist gut möglich. Herr Jakubinski, ich wollte Sie zunächst mal darum bitten, uns ihre Akten zur Verfügung zu stellen. Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir kurz ihren Eindruck schildern könnten, was den bisherigen Verlauf anbelangt.“ Jakubinski seufzte.
„Na klar, Sedlmeyer. Die Akten lass ich Ihnen gleich zuschicken, die sollten Sie spätestens heute Nachmittag auf dem Schreibtisch haben. Was meinen Eindruck zu dem Fall anbelangt: ich will ehrlich zu Ihnen sein. Sonderlich weit sind wir damit nie gekommen. Sie wissen doch selber wie das bei Entführungen so ist. Familiäre Hintergründe konnten wir mit großer Sicherheit ausschließen, das Umfeld war blitzsauber. Also, der nächste Schritt, wie üblich: Mithilfe-Aufrufe an die Bevölkerung. Das hat auch nichts gebracht, außer den üblichen Spinnern. Eine ältere Frau will das Mädchen in der Kirche gesehen haben, wo es nach dem Gottesdienst Weihwasser verspritzt und die Gläubigen gesegnet hat. Lauter so ein Mist. Die beste Spur war noch eine junge Türkin, die sich sicher war, das Mädel in einem Klamottengeschäft beim Einkaufen gesehen zu haben. Wir konnten dann aber recht schnell klären, dass es dabei um eine Schaufensterpuppe ging, die zufällig ähnliche Kleidung trug.“
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