Und selbstverständlich ist es im Licht von Rousseaus apodiktischem Tugendbegriff nur folgerichtig, wenn ein führender SPD-Politiker, der sogar Kanzler werden wollte, Gift und Galle spuckend einen seiner politischen Wettbewerber auf den (Zitat:) »Misthaufen« wünscht und für diesen jakobinischen Versuch der Delegitimierung parlamentarischer Opposition statt öffentlicher Kritik öffentliches Schulterklopfen erntet. Ersetzt man die Vokabel Misthaufen durch Guillotine, man könnte glatt vergessen, dass diese Worte nicht 1794 im Pariser Wohlfahrtsausschuss gefallen sind, sondern 2018 im Deutschen Bundestag. Dass man die Äußerung von Martin Schulz, obwohl er sich als politisches Leichtgewicht entpuppt hat, nicht auf die leichte Schulter nehmen darf, beweist ein Blick in das Buch »Wie Demokratien sterben« von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Die Harvard-Professoren haben darin Symptome dafür aufgelistet, dass eine politische Kraft die Stützpfeiler einer Demokratie zum Einsturz zu bringen trachtet. Die Leugnung der Legitimität einer konkurrierenden politischen Kraft, also genau das, was Martin Schulz mit seinem Diktum vom »Misthaufen« bezweckte, steht auf ihrer Liste ganz oben. Ein zweites Kriterium ist die Bereitschaft zur Einschränkung von Grundfreiheiten, etwa durch Pressezensur oder die Behinderung der Opposition. Wer würde da nicht sofort denken an das umstrittene Netzwerkdurchsetzungsgesetz oder den Straftatbestand der »Hassrede«, durch die unbequeme Äußerungen als Verstöße gegen einen vom Establishment durchgesetzten Weltoffenheit-und-Toleranz-Tugendbegriff unterdrückt werden können? Den folgenden Kommentar eines Facebook-Nutzers stufte das soziale Netzwerk als Hassbotschaft ein: »Die Deutschen verblöden immer mehr. Kein Wunder, werden sie doch von linken Systemmedien mit Fake-News über ›Facharbeiter‹, sinkende Arbeitslosenzahlen oder Trump täglich zugemüllt.« Facebook löschte den Eintrag. Nichts kann die gewaltige Gefahr, die den bürgerlichen Freiheiten durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz droht, besser illustrieren als dieses Fallbeispiel. Nach Maßgabe der eigenen Parteipräferenz oder Weltanschauung wird gelöscht, was nicht genehm ist: Facebook als Robespierre des 21. Jahrhunderts. Ein Gerichtsbeschluss (Landgericht Berlin, Az. 31O21/18) war nötig, um den Nutzer in sein Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung wieder einzusetzen. Vor diesem Hintergrund muss das, was vermeintlich lupenreine Demokraten wie Martin Schulz in der Auseinandersetzung mit Oppositionellen in der jüngeren Vergangenheit von sich gegeben haben, jeden wirklichen Demokraten in Alarmbereitschaft versetzen.
Verräterisch in Richtung Rousseauismus weisen auch die bei Suhrkamp veröffentlichten und an Jean-Claude Juncker adressierten Überlegungen David van Reybrouks zum Thema EU. Der Holländer stellt das System der demokratischen Abstimmung grundsätzlich in Frage. Wahlen, »um aus dem Gemeinwillen eine Regierung und deren Politik zu bestimmen«, hält er für eine »altmodische Methode«. Die Väter des Grundgesetzes scheinen geahnt zu haben, dass der große Aufklärer aus Genf dem parlamentarischen System noch einmal gefährlich werden könnte. Den Begriff Tugend kennt das Grundgesetz nicht. Dort, wo Rousseaus Erben, die Apostel der Hypermoral, ihn gern installieren würden, steht bereits ein anderer Begriff und versperrt den Weg: Freiheit. Zweitens sieht Artikel 21 ganz ausdrücklich vor, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Wer sich jemals gefragt hat, warum der Gesetzgeber hier das Wort Wille dem Wort Meinung vorgezogen hat, der findet die Antwort einmal mehr beim Autor des »Gesellschaftsvertrags«. Hinter der Formulierung steckt die klare Absage an die von Rousseau entworfene und von David van Reybrouk wieder ausgegrabene Utopie vom beständig richtigen Gemeinwillen, der schon vorher da ist und von der Politik nur wie ein reifer Apfel gepflückt zu werden braucht. Das Konzept der liberalen Demokratie kennt keinen beständig richtigen Willen, sondern der muss erst gebildet werden. Er kristallisiert sich heraus aus dem Streit, den die Parteien stellvertretend für die Gesellschaft als gleichberechtigte Wettbewerber untereinander austragen. Und man kann eigentlich nur hoffen, dass sie noch streiten. Wer dagegen den politischen Dissens wegen der Polarisierung, zu der er bei wichtigen Streitfragen führen kann, beklagt, der muss sich fragen lassen, was er will: parlamentarische Demokratie oder Wohlfahrtsausschuss. Rousseau jedenfalls reibt sich bereits die Hände. Er wittert Morgenluft.
Manches von dem, was ich in dem kleinen Rousseau-Exkurs nur kurz angerissen habe, wird im nachfolgenden Text vertieft. Es geht also nicht nur um Sinn oder Unsinn der »Ehe für alle«. Es geht ganz grundsätzlich immer auch um das fundamentale Menschenrecht auf eine eigene Meinung. Der Umgang mit Kritikern der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist ein Testfall für unsere Demokratie. Das ist der Subtext dieses Buches, dessen erste Ausgabe 2017 als Kindle-Edition erschien und das gerade einen kleinen Sturm zu überstehen hatte: Im März 2019 wurde mir von Amazon-KDP, dem Verleger der E-Book-Fassung von »Böse Falle ›Ehe für alle‹« mitgeteilt, dass man mein KDP-Konto gelöscht habe. Alle meine Publikationen, auch einige Deutsch-Lehrwerke, waren mit sofortiger Wirkung nicht mehr lieferbar. Begründung: Ich hätte gegen Urheberrechte verstoßen. Auf Nachfrage wurde mir mitgeteilt, sogar auf Englisch von der Hauptzentrale, man könne die Vorwürfe nicht präzisieren. Mein Verstoß ergebe sich aus den KDP-Veröffentlichungsrichtlinien, zu denen man mir mit selbiger E-Mail noch einmal einen Link schicke. In einer letzten Mitteilung hieß es, man habe meine Einwände, dass ich der Rechteinhaber aller von mir veröffentlichten Werke sei, geprüft und sehe keinen Anlass, die Entscheidung zurückzunehmen. Ich durfte mich nach einer neuen Veröffentlichungsplattform umsehen. Jeder, der jetzt auf seinem technischen Gerät »Böse Falle ›Ehe für alle‹« liest, liest das Ergebnis eines zähen Kampfes. Aber er kann erst mal aufatmen: Noch ist die Festung Pressefreiheit nicht geschleift. Aber klar ist auch: Sie hat schon bessere Tage gesehen.
Als kleine Bonus-Beigabe findet sich im Anhang zu diesem Digitalbuch ein Text, wie ihn Autoren im »Writers' Room« dank neuer Satzung wohl nicht mehr verfassen dürfen, jedenfalls nicht ohne ex cathedra verordnetes schlechtes Gewissen.
Es lebe die Freiheit!
Dietmar Mehrens 25. April 2019
1. Das Grundgesetz schützt Ehe und Familie
Am 30. Juni 2017 beschloss der Deutsche Bundestag in einer auf Antrag von SPD, Die Linke und Grünen anberaumten Sitzung, eine formelle Eheschließung auch für gleichgeschlechtliche Paare zuzulassen. Damit hat nach anderen westlichen Gesellschaften nun auch die Bundesrepublik Deutschland einen beispiellosen Bruch mit dem vollzogen, was kultur-, generationen- und zeitübergreifend in der Menschheitsgeschichte – außer in dem Kapitel, das wir gerade schreiben – klare Norm, fester Brauch und integraler Bestandteil der Zivilisation war. Wie konnte es so weit kommen? Und: Ist das wirklich gut für Deutschland? Diesen Fragen möchte diese Streitschrift auf den Grund gehen und dabei allen Orientierung geben, die bei dem Gedanken an Ehepaare, bestehend aus Mann plus Mann oder Frau plus Frau, ein Unbehagen beschleicht, ohne dass sie sachlich genau begründen könnten, warum.
Ein erster Blick geht in das Grundgesetz, das in der Gestalt universeller unverletzlicher Regeln, die zum Teil zurückgehen auf die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789, den großen rechtlichen Rahmen für das Zusammenleben aller Menschen im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland setzt. Wenn wir im Grundgesetz Artikel 6 lesen:
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