»Im Sommer ging in einem Zug eine Bombe hoch, es gab zweihundert Tote. Hast du's nicht mitgekriegt?«
»Das schon, aber irgendwann endet doch sowieso alles.«
Sie schüttelte den Kopf: »Deswegen würd ich dich nie heiraten.«
»Über sowas machst du dir nicht etwa Gedanken?«
Sie lachte und schüttelte abermals den Kopf. Dann wurde sie ernst: »Bahnfahren ist hier schon so kein Spass. Und seit sich Mudschaheddin aus dem Dekhan in der Stadt herumtreiben, fahre ich so wenig Zug wie möglich.«
Ich überquerte die breite doppelspurige Ghokale Road und marschierte eine belebte Hauptstrasse hinunter, die zur Station führte. Der Wind schleifte Krepppapier über die Fahrbahn. Meinen Weg säumten kleine Geschäfte, die alle geöffnet hatten. Der Bahnhof, der tags vor Menschen wimmelte, war jetzt fast leer. Ich kaufte ein Ticket und nahm die Überführung hinüber zum Gleis. Die flackernden Anzeigen kündeten die Durchfahrt eines Zugs nach Patna an, einer Stadt in der Gangesebene, fast zweitausend Kilometer weit entfernt. Ich stieg die Treppe zur Plattform hinunter. Die Lautsprecher knackten und eine Frauenstimme machte im Singsang eine Durchsage auf Marathi. Da ertönte aus der Dunkelheit schon ein Signalhorn und aus der Gleisbiegung erschienen die grossen Scheinwerfer einer Diesellok. Die Fundamente der Station begannen zu beben. Mir wehte der Geruch von erhitztem Eisen entgegen. Dann erfüllte der schwere Klang von Radachsen die Luft mit dunklen Rhythmen. Eine urtümliche Nocturne hob an, voller metallener Glissandi, herumgeisternder Obertöne und dumpfem Pochen, derweil der vollgepferchte Zug durch die Station rollte. Aus den offenen vergitterten Fenstern lugten Arme heraus, einzelne Handteller ruderten im Luftstrom. Gesichter starrten mir entgegen. Ich erhaschte rot gewandete Verkäufer, die Tee in Chromstahlbehältern auf dem Kopf durch die Abteile balancierten. Reisende bugsierten Koffer herum, andere breiteten auf ihrer Bettstatt Decken für die Nacht aus. Diese langen und schweren Züge brauchten eine Weile, um richtig Tempo zu gewinnen, und auch dann fuhren sie nie mehr als siebzig Kilometer die Stunde. Bis Patna brauchte dieser Kurs so ganze zwei Tage. Die metallene Schlange wollte nicht mehr enden, Wagen an Wagen polterte vorbei, bis sie endlich mit ihrer Myriade von Augenpaaren im Dunkel der Nacht verschwand. Ich hörte den Zug über die Weichen holpern wie ein forttreibendes Schiff, das in den Wellen rollt. Wenig später brauste mein Vorortszug heran und bremste schrill ab. Er war nur halbvoll. Nach einer halben Minute setzte er sich in Bewegung Richtung CHURCHGATE TERMINUS. Ich stand an der offen Wagenrampe und hielt mich an einer Stange fest. Neben mir lehnte ein schlaksiger Kerl im Türrahmnen. Er trug ein Jeanshemd, auf dem unzählige Stofflicken aufgenäht waren. Auf jedem war das Wort GUCCI gestickt. Ein Mantra in zig Farben und krakeligen Buchstaben. Als er bemerkte, dass ich sein Shirt musterte, setzte er eine wichtigtuerische Miene auf.
»No pirate copy!« rief ich.
Er lachte, schüttelte den Kopf und streckte ihn zur Wagentür hinaus. Draussen zogen trübe Lichter vorbei. In der Ferne krachten Böller. Lärmfetzen schwirrten umher. Hochhäuser türmten sich auf und flogen hinweg, dann wieder breiteten sich Hüttensiedlungen aus, von denen faulige Gerüche herbeiwehten. Ab und zu kamen am Bahndamm Menschengruppen in Sicht, die darauf warteten, gleich nach unserer Durchfahrt die düsteren Gleisstränge zu queren. Das Licht unserer Waggons streifte Gestalten, die neben der Trasse in der Hocke kauerten und schissen. Mir war, als sei ich auf ein Filmset geraten. Die breite Wagentür eine vibrierende Leinwand, die die Sicht hinaus in eine mysteriöse Galaxie freigab.
Mein Blick wanderte über die wenigen Passagiere in den offenen Abteilen. Das Wageninnere war von Neonleuchten in grelles Licht getaucht. Ich blickte unter die Sitze, wo einzelne Pakete oder Taschen lagen. Wenn jetzt ein Sprengsatz detonierte, hätte ich ein glückliches Leben gehabt, ein wenig bitter, aber gut. Lieber ein bitteres Glück als gar keins. Doch es waren zu wenig Passagiere im Zug. Die Ausbeute hätte den Aufwand nicht gelohnt. Nach einer Viertelstunde Fahrt rumste der Zug quer über die Gleise und fuhr mit einem gellenden Pfiff in die Halle des Endbahnhofs ein. Der Wagen kam mit einem groben Ruck zum Stehen.
Ich schrieb Ayyan ein SMS: »In CHURCHGATE angekommen, keine Bombe explodiert. Deine Mudschaheddin sind Penner.« Ich nahm am Bahnhof ein Taxi zur Südspitze der Stadt. Der Wagen röhrte dem OVAL MAIDAN entlang. Am Ende des in Düsternis liegenden Parks kamen die MITTAL TOWERS in Sicht. Und bald glitzerten zwischen hohen Häusern die Wellenkämme des Arabischen Meeres. Ich hielt meine Hand zum Fenster hinaus und liess die warme Luft zwischen meinen Fingern hindurchströmen. Schliesslich verlangsamte der Wagen sein Tempo und hielt auf eine Gruppe Betontürme zu. Er passierte ein Gittertor, das von einem Uniformierten mit Schlagstock bewacht wurde. Der Fahrer liess das Taxi die abschüssige Zufahrt zu einem Häuserkomplex hinunterrollen. Bei einem beleuchteten Eingang mit der Nummer »10a« ging er auf die Bremse.
Ich drückte die Klingel, kurz darauf surrte der Öffner. Ich betrat einen stickigen Gang und nahm den Lift in die achzehnte Etage, wie mich die Lady geheissen hatte. Als ich oben die Lifttür aufstiess, hörte ich es schon Salaam! rufen. Sie stand am Ende des kurzen Gangs, von dem eine Handvoll Wohnungen abgingen. Sie trug einen Hidschab, doch verbarg dieser kaum ihre hervorquellenden Haare. Sie war etwa fünfzig und hatte die scharf geschnittenen Gesichtszüge einer einst gefeierten Schönheit. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Ich konnte mich nicht erinnern, ihr Gesicht jemals gesehen zu haben. »Hi«, grüsste ich. »Hallo, hallo!«, rief sie leise und wedelte mit der Hand, als wären wir ein heimliches Paar. Sie hielt in der Hand ein dickes Glas mit einem bernsteinfarbenen Trank. »Komm rein, du hast sicher Durst. Ich mach dir einen Drink. Hat Whiskey im Haus, aus Japan.« »Wasser ist auch gut.« »Jaja, davon hat's auch drin.« Sie lachte. Ich folgte ihr durch die Tür in die Wohnung hinein. Am Ende eines langen Gangs öffnete sich ein grosses Wohnzimmer. Hinter der breiten Fensterfront blinkten die Positionslichter der Kräne in der Hafenbucht. In der Ecke räkelte sich ein junges Mädchen auf einem Sofa. »Meine Nichte, Aroob«, stellte sie die Lady vor. »Hallo.« »Hi! War cool, das Konzert gestern!« »Aroob lebt in Toronto,« fiel ihr die Tante ins Wort, »sie hat hier gerade auf der FASHION WEEK ihre neue Kollektion gezeigt.« Mein NOKIA fiepte. Eine SMS. »Blödmann! Ayyan« »Du hast hier schon Freunde?« Die Lady musterte mich. »Die Sängerin von gestern Abend.« »Ah«, meinte sie und tauschte mit Aroob einen Blick aus. »Sie sah nett aus«, erwiderte Aroob. Die Tante zog die Augenbrauen hoch. »Kenne sie erst seit ein paar Tagen«, entgegnete ich. Ich schob das Handy wieder in meine Hosentasche. »Wohnst du hier alleine?« Die Tante musterte mich. »Mein Mann ist lange schon tot, wir hatten keine Kinder.« »Tut mir leid.« »Hast du nicht wissen können.« Mein Blick fiel auf den breiten, silbernen Armreif an ihrem Handgelenk. Sie bemerkte es und hob mir ihren Arm entgegen: »Ein Familienerbstück, über vierhundert Jahre alt.« Er hatte Tierfiguren eingraviert und war mit Kalligrafien verziert. An den Rändern war die Gravur fast verblichen. »Aus Rajasthan, da stamme ich her. Die Frauen trugen den Schmuck auch zum Wäschewaschen. Die Muster sind vom Kontakt mit dem Brunnenrand fast blankgescheuert worden.« Sie lachte trocken. »Hier drüben ist mein Schlafzimmer«, sagte sie plötzlich und zeigte auf eine angelehnte Tür, »geh rein. Vom Fenster geht der Blick auf die andere Seite hinaus auf den Indischen Ozean. Ich gehe rüber zu Aroob, sie kleidet mich fürs Dinner an.« Ich betrat das Schlafzimmer, das im Finstern lag. Die Fensterfront war ganz aufgeschoben. Ein warmer Luftzug strich mir übers Gesicht. Die Vorhänge blähten sich wie Segel. Der Blick ging fast drei Meilen weit hinaus aufs Meer. Ich konnte das Ende von Chowpatty Beach sehen und dahinter die glitzernden Lichter von Malabar Hill. Fast zu Füssen des Gebäudes schaukelten die matten Lichter einer Hüttensiedlung. Jetzt verspürte ich Durst.
Читать дальше