"Jeder muss sehen, wo er bleibt, lieber Jurij. Ich hab für dich immer die Drecksarbeit erledigt und hätte mehr verdient, als Du mir geben wolltest. Doch jetzt hat sich die Situation geändert. Jetzt habe ich das Sagen! Wenn ich nur ein Zeichen gebe, bist Du tot und noch ehe Du kalt bist, wird Dir Dein Vater folgen. Oder Du verschwindest für eine Weile, überlässt mir Deine Geschäfte und wenn ich Dir sage, dass Du zurückkommen kannst, sind wir Partner. So einfach ist das. Was meinst Du?" Er lockerte die Drahtschlinge ein wenig, damit Jurij antworten konnte.
"Du Arschloch. Ich werde Dich einfach kalt machen, so sieht das aus", röchelte der Gefangene hasserfüllt. Dann war die Schlinge schon wieder so eng, dass sie sich in seine Haut presste. Er spürte, wie das Blut an seinem Hals herabfloss.
"Nein, das wirst Du nicht. Du machst mit mir künftig die Geschäfte, so wie ich es will oder du bist in einer Minute tot. Viel Luft erhält Dein Gehirn schon jetzt nicht mehr. Es wird also immer schwieriger die richtigen Entscheidungen zu treffen. Also was meinst Du? Machen wir weiter? Oder beenden wir die Geschichte gleich hier und jetzt?"
Jurijs Hals schmerzte stark, seine Zunge begann bereits anzuschwellen und er bekam kaum noch Luft. Die Adern an seinen Schläfen pochten und er sah bereits kleine grelle Sterne vor seinen Augen. Es würde nur noch Sekunden dauern, bis er ohnmächtig wurde und - wenn es nach Simeon und seinem Vater ging - auch nicht mehr erwachen sollte.
Mit letzter Kraft sah er Simeon in die Augen und nickte kaum merklich.
"Kluge Entscheidung, mein Freund. So ist es gut."
Simeon wandte sich zu seinen Leuten. "Packt ihn ein! Los! Wir hauen ab von hier!" Jurij spürte den dumpfen Schlag auf seinen Hinterkopf kaum und war auf der Stelle bewusstlos. Es sollte fast zwei Tage dauern, bis er wieder zu sich kam.
Ich lenkte den Wagen zügig durch den Frühverkehr, querte die Donau und fuhr zielsicher durch das Straßengeflecht jenseits des Flusses. Die Adresse war mir nur zu gut bekannt. Es handelte sich um ein Haus, das immer wieder von illegalen Flüchtlingen zum Übernachten benutzt wurde. Ab und zu stattete ich dem Eigentümer einen Besuch ab, um sicher zu gehen, dass er wusste, dass ich wusste, was er tat. Wir ließen den Hauswirt gewähren, da er nicht ganz freiwillig als Informant für mich arbeitete. Ich hatte ihn vor drei Jahren bei einer Razzia geschnappt und gleich erkannt, dass der Mann ein feiges Schwein war, das nur auf das schnelle Geld aus und dem Menschen völlig egal waren. Ich stellte den nach kaltem Zigarettenrauch und Schweiß stinkenden Fettsack damals vor die Wahl, für mich zu arbeiten oder ihn an die Schlepper auszuliefern. Mein damaliger Partner wollte wegen einer anstehenden Beförderung unbedingt die Verhaftung des Hauswirtes haben, doch ich erwirkte, dass der Mann mit einer Anzeige auf freiem Fuß entlassen wurde. Der Protest meines Kollegen ließ mich kalt. Ich hatte mein Ziel erreicht und jetzt einen Spitzel in der Organisation. Nur das zählte. Mein Partner musste auf die Beförderung warten. Seit dem arbeitete ich ohne Partner.
Als ich meinen Wagen vor dem Haus abgestellt hatte und ausgestiegen war, zog ich den Mantel zu und ging rasch durch den Regen in den Hausflur des heruntergekommenen graubraunen, zweigeschossigen Gebäudes. Absperrbänder und Menschen in weißen Einwegoveralls sprangen mir ins Auge. Die Szenerie eines Kapitalverbrechens. Ich hatte am Telefon erfahren, dass am frühen Morgen ein Asylant tot in einem Zimmer von einem Mitbewohner aufgefunden wurde.
„Was haben wir?“ fragte ich die schwarzhaarige Revierinspektorin in Uniform an der Zimmertüre.
„Der Mann - wahrscheinlich Russe oder so - wurde offenbar in der Nacht mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Es gibt keine Papiere oder Wertsachen. Dürfte sich um Raubmord unter den Typen gehandelt haben“, antwortete die Uniformierte in herablassendem Tonfall. Ich blickte sie scharf an. Mag sein, dass ich in manchen Situationen überreagierte, aber Diskriminierung duldete ich nicht. Vielleicht, weil ich selbst als Flüchtling nach Österreich gekommen war. Außerdem fand ich, dass es den Blick für das Wesentliche trübte, wenn man von vornherein an die Schuld von bestimmten Menschen glaubte.
„Was meinen Sie mit „Typen“?“
„Entschuldigung, Chefinspektor. Das ist mir so rausgerutscht.“ Ich hatte mich direkt vor der fast einen Meter achtzig großen sportlichen Frau aufgebaut, so dass sich unsere Nasen fast berührten.
„Bin ich auch nur so ein „Typ“ für Sie?“ Meine Stimme wurde härter und schneidender.
„Nein, natürlich nicht. Soll ich den Leichenbeschauer für Sie holen?“ versuchte die Beamtin rasch das Thema zu wechseln. Ich blickte sie bedrohlich an und wandte mich ohne Antwort ab. Ich ging in das Zimmer, in dem der Tote neben dem Fenster auf dem Bauch lag. Sein Hinterkopf war eingeschlagen und eine große Blutlacke hatte sich auf dem Holzboden ausgebreitet. Die Vorhänge waren zugezogen. In dem rund vier Mal fünf Meter großen Zimmer lagen sechs schäbige, mit jeder Menge Flecken übersäte, Matratzen am Fußboden. Auf manchen Matratzen lagen zerschlissene Decken oder ein übel riechender Polster. Sie schienen kürzlich nicht benutzt worden zu sein, jedenfalls waren sie kalt. Wenn in dieser Nacht jemand hier geschlafen hatte, dann waren der- oder diejenigen schon lange fort. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes. Der Mann war vermutlich am Fenster gestanden und von hinten angegriffen worden.
„Es gibt keine Abwehrspuren. Ich werde mir den Toten natürlich noch genau in der Pathologie ansehen, aber so wie es aussieht, ist der arme Mann völlig überrascht worden.“ Die Pathologin und ich kannten uns von einigen früheren Fällen. Wir schätzten einander auf kollegialer Ebene, aber weder Dr. Karner noch ich wären je auf die Idee gekommen, unsere Freizeit miteinander zu verbringen. „Wahrscheinlich hat sich der Angreifer von hinten angeschlichen und ihn erschlagen. Als Tatwaffe kommt ein stumpfer Gegenstand in Frage, etwa ein Baseballschläger.“ Ich blickte auf.
„Haben Sie in der Wunde einen gefunden oder wie kommen Sie gerade auf einen Baseballschläger?“
„Das nicht direkt, aber es sind einige Holzsplitter in der Wunde. Ich muss sie erst analysieren.“
„Der Bericht ist morgen früh fertig?“ Ich betonte die Frage wie eine Aufforderung. Die Mundwinkel der Ärztin verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Sie kannte meine Ungeduld. Ich hasste es aus bürokratischen Gründen nichts unternehmen zu können.
„Habe ich Sie je länger warten lassen, als unbedingt notwendig, Chefinspektor? Spätestens morgen Mittag ist der Bericht auf ihrem Schreibtisch.“
Ich blickte mich um und winkte den Polizeifotografen zu mir, gab ihm einige knappe Anweisungen, welche Fotografien ich zusätzlich zum normalen Umfang gerne hätte und verlangte die Abzüge ebenfalls bis zum nächsten Morgen. Dann verließ ich den Raum.
„Gibt es Zeugen?“ fragte ich die Beamtin vor der Tür.
„Wir haben alle im Nebenraum zusammen geholt. Aber die sprechen nur russisch oder so ein Zeug.“ Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass sie in das nächste Fettnäpfchen getreten war. Sie blickte entschuldigend zu mir. Doch ich überhörte diese Bemerkung diesmal und begab mich zum Nebenraum.
„Bringen Sie mir den Hauswirten“, befahl ich einem Kollegen in Uniform. Ich betrat den Raum und sah zwei Männer, die mit Handschellen gefesselt am Boden saßen. Zwei Uniformierte bewachten die beiden Männer, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Einer von ihnen war klein, wirkte ausgezehrt und hatte ausgebleichte und leicht verschlissene Kleidung am Körper. Er saß am Boden und blickte ängstlich zu mir herauf. Der andere war ein Stück größer als ich, wog sicherlich einhundertzwanzig Kilo und passte so gar nicht in das herkömmliche Flüchtlingsschema. Sein Äußeres war gepflegt, er saß kerzengerade vor mir und blickte mich gleichgültig an. Ich witterte eine freudige Überraschung, denn wenn ich Glück hatte, war das sogar ein Schlepper!
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