"Du bist wirklich ein zäher Kerl", weckte Johannes den schlafenden Jungen. Und mit einer Spur von Dankbarkeit bemerkte Falko, dass der Mönch ihn mit einer Decke eingepackt hatte.
"Wenn wir Herzog Normans Burg erreichen, soll ich dich dann als Gefangenen vorführen?"
"Nein", antwortete Falko flehend auf Johannes Drohung.
"Soll ich dir erneut die Hände binden und dich wie ein Stück Vieh neben mir führen, dich als Sklaven zum Kauf anbieten?"
"Nein", flehte Falko erneut und warf sich auf Knien in den Schnee.
"Dann schwöre mir, dass du nicht fliehst, dass du den einzigen Gott, bezeugt durch seinen Sohn Jesus Christus, Herr nennst, und dass du mich Herr nennst und mir treu dienst."
"Ich schwöre es", flüsterte Falko in den erwachenden Morgen.
"Schwöre es beim Leben deines Vaters."
Falko zögerte, doch er sah keinen anderen Weg. "Ich schwöre beim Leben meines Vaters."
"Schwöre es beim Leben deines Pferdes."
Falko stöhnte. Das war zu viel. Der Schwur würde ihn auf ewig binden. Doch was hatte er für eine Wahl? Wollte er lieber durch Stricke gebunden sein? "Ich schwöre beim Leben meines Pferdes."
Doch Johannes war sich noch immer nicht sicher. Jeden Christen hätte er auf den Herrn Jesus schwören lassen und ihn damit fester als mit einer Kette gebunden. Doch den Kleinen verband zu wenig mit Jesus. Dieses zu ändern, bräuchte viel Zeit. So überwand Johannes alle Skrupel. "Schwöre es bei all deinen Göttern. Schwöre es bei Saxnot. Schwöre es bei Wodan."
Tränen traten in die Augen des noch immer knienden Kindes. Schwor er vor den Göttern, einen anderen Gott Herr zu nennen, so wäre das Verrat. Bräche er seinen Schwur auf die Götter, wäre auch das Verrat. Was sollte er nur tun? Seine Handgelenke brannten noch immer, zeigten noch immer die Spur der Fessel. Wollte er diese erneut tragen? Wollte er Gefangener der Franken sein, niemals die Chance haben, Gis zu finden, den Vater zu finden?
"Ich schwöre bei allen Göttern, bei Wodan und Saxnot", hauchte er über den Schnee, dessen kalte Oberfläche seine Lippen fast berührten.
"Und was schwörst du?"
"Ich schwöre, dass ich nicht fliehe, dass ich den einzigen Gott, bezeugt durch seinen Sohn Jesus Christus, Herr nenne, und dass ich euch Herr nenne und euch treu diene." Stockend würgte Falko die Worte heraus. Verräter, Verräter, klang es in seinem Kopf. Gleich fährt ein Blitz aus dem Himmel und lässt mich zu Stein erstarren, dachte er. Doch nichts geschah. Ein strahlender Morgen brach an, kalt zwar, aber mit blauem Himmel und lächelnder Sonne. Verziehen ihm die Götter? Oder war der neue Gott doch stärker? Aufgewühlt und voller Zweifel über das, was ihm bisher als unumstößlich galt, bepackte Falko das Pferd und trabte neben dem Tier und seinem Herrn auf breiter werdenden Wegen her.
Falko kannte nur flache Hütten aus Holz und Lehm. Eine Burg sah er nie zuvor. Mächtig ragte der auf einem Hügel stehende Turm gen Himmel. Höher als die heiligsten Bäume, die der Junge je sah, verkündete dieser Bau den Herrschaftsanspruch seines Besitzers. Die Umzäunung aus Palisaden, welche sich hinter einem breiten Graben erhob, strotzte nur so vor Kraft und Wehrhaftigkeit. Was für eine Macht muss der Christengott besitzen, fürchtete sich Falko.
Nach kurzer Zeit trafen sie auf Bauern, welche offenbar das gleiche Ziel wie sie hatten.
"Gelobt sei Gott der Herr", grüßten die ärmlich Gekleideten in Johannes Richtung.
"Gelobt sei Gott der Herr", grüßten auch die Wachen an der Zugbrücke. Anscheinend kannten den Mönch alle in dieser Gegend. Johannes stieg vom Pferd, sprach einen kurzen Segen und schritt über die Balken der heruntergelassenen Brücke.
"Willkommen auf Eisenstein, deiner neuen Heimat", sagte er dabei. Staunend folgte Falko seinem neuen Herrn, an den ihn ein starker Schwur band. Wenn sie die Brücke hochziehen, den Sinn des Bauwerks hatte der Junge blitzschnell erfasst, kommt keiner rein, aber auch keiner raus. Gruseln mischte sich unter das Staunen. Doch viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Rasch ließen sie eine zweite Palisadenreihe hinter sich. Zwischen zwei strohgedeckten Langhäusern führte der Weg direkt auf den hölzernen Burgturm zu, welcher auf einem grasbewachsenen, über eine Treppe aus schweren Balken zu besteigenden Hügel, thronte. Doch leider bog Johannes nach links um das Langhaus herum und ging auf eine runde Hütte zu, aus deren Dachabzug weißer Rauch stieg. Er pfiff kurz und ein Junge, kaum älter als Falko, gekleidet in einfache Bauerntracht, rannte herbei. Im Gegensatz zu seiner nichtssagenden Kleidung wirkte sein Haar exotisch. Lang und pechschwarz fiel es ihm über die Schultern. Der kräftige Braunton seiner Haut verstärkte den Eindruck, dass er nicht hier in der Gegend geboren war. Falko musterte ihn interessiert und ängstlich zugleich.
"Endlich seid ihr zurück, gelobt sei der Herr", rief der Schwarzhaarige und griff sogleich nach den Zügeln des Pferdes.
"Bring meine Sachen in die Hütte und kümmere dich um das Tier", wies ihn Johannes an. Doch der Junge zögerte. Der Blick seiner großen dunklen Augen blieb an Falko hängen, schien bis in dessen Innerstes zu dringen.
"Das ist Falko, mein neuer Diener", erklärte Johannes mit einem Ton, welcher sich jeden Widerspruch verbat. "Falko, das ist Rango."
Rango murmelte einen unverständlichen Gruß, den Falko mit kurzem Nicken beantwortete.
"Ihr dient mir ab sofort gemeinsam. Werdet euch schon aneinander gewöhnen", beendete Johannes die spannungsgeladene Situation, gab seinem Braunen einen Klaps und ging auf die runde Hütte zu. Falko zögerte zunächst, ihm zu folgen, doch Johannes Handbewegung war eindeutig und die Aussicht auf ein wärmendes Feuer zu verlockend. Kaum schloss sich die Tür hinter ihnen, fühlte Falko die Kälte aus seinen Gliedern weichen. Es fehlte nur noch ein kräftiger Imbiss und sein Glück wäre perfekt gewesen.
"Dort", Johannes wies auf die gegenüberliegende Wand, "findest du gemahlene Hirse. Das Wasser hängt bereits über dem Feuer. Rango hat seine Aufgaben ordentlich erledigt. Mach du uns jetzt einen Brei, aber lass nichts anbrennen. Das ziehe ich sonst von deiner Ration ab."
Falko war es nicht gewohnt zu kochen. Krampfhaft versuchte er nun, sich an das zu erinnern, was er bei seiner Mutter und bei Astrid gesehen hatte. Er maß eine Schüssel vom Mehl ab und wollte es in das dampfende Wasser gießen, während sich Johannes hinter einem Leinenvorhang der Reisekleidung entledigte, da trat Rango in die Hütte. Verblüfft sah er Falko an. "Was machst du da?"
"Brei aus Hirsemehl", bekam er in unbekümmertem Ton zur Antwort.
"Na, dann sage ich nur, wohl bekomm's", gab Rango lachend zurück. Der Wortwechsel lockte Johannes hinter dem Vorhang hervor. Er trug lediglich noch sein Hüfttuch, über das sich der fette Bauch wölbte. Es schien ihn nicht zu stören, halb nackt vor die Jungen zu treten. "Dann hilf ihm, wenn du es besser weißt. Ihr müsst miteinander klarkommen. Da geht kein Weg dran vorbei."
Murrend nahm Rango die Schüssel an sich, tat Gewürze hinein, gab Milch und dann das Mehl in den dampfenden Kessel. Bald entstieg diesem ein leckerer Duft. Die angespannte Stimmung wich in dem Maße, wie sich die Nasen des Mönchs und seiner beiden Diener mit Wohlgeruch füllten. Johannes verteilte die Speise auf drei hölzerne Schalen, füllte seine bis zum Rand, Rangos nur wenig darunter, Falkos jedoch so eben bis zur halben Höhe.
"Nur wer arbeitet, soll auch essen. Du musst dir deinen Lohn verdienen", sagte er in Richtung des Kleinsten unter seinem Dach.
Falkos Schale war als Erste geleert, blank geleckt und nicht in der Lage, des Jungen Hunger auch nur ansatzweise zu stillen.
"Kümmert euch jetzt um die Tiere. Holt dann frisches Wasser und bereitet mein Bad. Du", er sah Falko streng an, "befolgst Rangos Anweisungen ohne Widerspruch. Und du", beim letzten Wort drehte er seinen schwitzenden Kopf in Rangos Richtung, "behandelst ihn wie deinen kleinen Bruder. Es gefällt Gott nicht, wenn Zank unter seinen Jüngern herrscht."
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