"Der Gefangene soll priesterlichen Beistand erhalten, damit er morgen, bei Rückkehr des Herzogs, seine Sünden gesteht." Ein Diener der Herzogin überbrachte die Nachricht. Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da standen Johannes und Falko bereits fertig gekleidet in der Tür.
"Für die Zeremonie benötige ich meinen Diener", erstickte Johannes jeden Widerspruch im Keim. Falko sollte die Geschichte aus Rangos Mund vernehmen, damit er nichts Gegenteiliges sagte. Und er sollte das Elend sehen, das auch ihn noch bedrohen konnte. Im schwachen Kerzenschein, das Licht des Tages hatte noch nicht gesiegt, eilten sie zum Burgturm, in dessen Keller sich das Verlies befand. Sie mussten durch eine schmale Luke und über eine Leiter in ein muffiges kaltes Loch hinabsteigen, in dem Rango, mit dem Rücken an der Wand lehnend, saß. Schwere Ketten hielten ihn gefangen. Blutige Striemen überzogen seinen Oberkörper.
"Lass uns allein", wies Johannes den Diener der Herzogin an. Dann kauerte er sich neben seinen geschundenen Diener, während Falko voll Schauder und voll Wut an der gegenüberliegenden Wand stehen blieb.
"Komm her und pflege seine Wunden", befahl Johannes und zog die Branntweinflasche aus seinem Gürtel. Während Falko der Aufforderung folgte und mit Stofffetzen, die er mit dem scharfen Getränk benetzte, Rangos Wunden wusch, flüsterte Johannes in dessen Ohr. "Ich kann es dir nur einmal sagen. Höre genau zu. Du begegnetest Framgard zufällig und zum ersten Mal. Du konntest nicht an dich halten und nahmst sie mit Gewalt. Dafür wird man dich bestrafen. Die Gräfin sorgt jedoch dafür, dass du nicht den schändlichsten aller Tode stirbst."
"Ist doch egal, wie ich sterbe", entgegnete Rango mit schwacher Stimme. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Beißender Schmerz zog durch seine Hände, während die Ketten bei der kleinsten Bewegung klirrten, ihn als Verbrecher brandmarkten, gefangen und bald verurteilt.
"So denkst du jetzt. Doch es ist ein Unterschied, ob man sein Leben unter dem Schwert verliert oder das Rad einem alle Knochen bricht und man auf die Speichen geflochten, sehnsüchtig auf seine Erlösung wartet, den Tod herbeifleht, der doch so langsam eintritt. Oder ob man gar bei lebendigem Leibe vom reinigenden Feuer verzehrt wird, nicht von einer großen Flamme. Nein, zunächst sind es nur kleine heiße Zungen, die nach den gebundenen Füßen lecken. Erst später fressen sie sich durch die Kleidung. Und während die Beine bereits verkohlen, muss der Kopf noch immer die fürchterlichsten Qualen wahrnehmen. Und dabei steht die geliebte Frau neben einem und leidet mit einem, stirbt mit einem. Willst du das?"
Johannes fasste Rangos Schultern und schüttelte ihn, dass seine Ketten gegen die Wand schepperten. "Willst du, dass auch Framgard stirbt?"
"Nein", keuchte der Junge, dem das verfilzte Haar wie ein Schleier vors Gesicht hing, die Qual verbergend, welche dieses in tausend Schattierungen ausdrückte.
"Also?", bohrte Johannes nach.
"Ich sah Framgard das erste Mal. Sie wusch sich im Bach. Ich konnte nicht an mich halten, riss ihr das Kleid herunter und warf es ins Wasser." Rango schüttelte die schwarzen Strähnen aus den Augen und blickte Falko fest ins Gesicht. "Und wir waren allein. Falko suchte Holz und konnte uns nicht sehen."
Danke mein Freund. Ich werde alles für dich tun. Saxnot rettet dich. Halte aus. Falko sprach die Worte nicht, umklammerte nur die Hand des Bruders. Kalt drückte die eiserne Schelle gegen seine eigene Haut. Wie die Kralle des Teufels fühlte sie sich an. Sollte er auch den Christengott anrufen? Nein, dann verriete er Saxnot und Wodan, verlöre er ihren Beistand. Sie begleiteten ihn seit der Geburt, halfen ihm aus mancher Not. Sie würden auch jetzt helfen. Man darf dem Christengott keine Macht geben, sonst stürzt die ganze Weltordnung.
"Komm", beendete Johannes das stumme Gebet seines Dieners, des Einzigen, der ihm verbleiben würde. Nur langsam stieg dieser die Leiter hinauf. Immer wieder drehte er seinen Kopf, versuchte im Dunkel des Kerkers den gefangenen Bruder zu entdecken. Doch kein Lichtstrahl erreichte ihn. Lediglich das schreckliche Klirren zeugte von seiner Anwesenheit. Falkos Herz blutete und sein Magen rebellierte. Unter Würgen kroch er aus dem Loch. Gleich darauf zog die Wache die Leiter nach oben und schloss die vergitterte Abdeckung. Wer darunter steckte, kam nicht von allein heraus. Nur eine List konnte Rango befreien. Wortlos gingen Johannes und Falko zu ihrer Hütte, der eine stumm Maria, die so tief mit menschlichem Leid vertraute Muttergottes, anrufend, der andere den wilden Saxnot anflehend. Und so verschieden ihre Gebete auch waren, drückten sie doch beide Leid und Kummer und Hilflosigkeit ihrer Absender aus. Rango war Johannes mehr als ein Diener, war ihm der Sohn, den er nie besaß. Er legte seine kräftige Hand auf Falkos Schulter, der mit seinen Bruder litt.
"Der Glaube versetzt Berge. Gott wird ihn erretten." Tränen standen in seinen Augen. Nie hätte Falko gedacht, dass der strenge Verkünder christlicher Lehren, der Anhänger kannibalischer Riten, das willige Werkzeug der fränkischen Eroberer, solche Gefühle für einen Diener, für einen gekauften Jungen, für einen Sklaven entwickeln würde.
"Er ist mir wie ein Sohn", sprach Johannes weiter. "Auch du sollst mir nicht Diener, sondern Sohn sein. Gemeinsam werden wir Rango befreien und von hier fortziehen. Dann löse ich dein Gelübde und du darfst gehen, wohin du willst."
Falko sollte ob dieser Worte in lauten Jubel ausbrechen. Doch es huschte lediglich ein schwaches Lächeln über seine Lippen. Das Bild des geschundenen Rango stand ihm zu deutlich vor Augen. Es musste ein Wunder geschehen, ihn aus dem Kerker zu holen. In der Hütte angekommen, widmeten sich beide ihren Alltagstätigkeiten, versuchten zu verdrängen und schmiedeten doch die wagemutigsten Pläne, um schließlich immer wieder die Mächte anzurufen, denen sie allein zutrauten, Hilfe bringen zu können. Und mit jeder Stunde, die verging, steigerte sich Johannes Unruhe. Was wird Norman tun? Ist auch Falko in Gefahr? Wird sich der Zorn des Herzogs gar gegen dessen Seelsorger wenden?
Gut gelaunt näherte sich Norman seiner Burg. Es war eine erfolgreiche Jagd und er, wie so oft, der Erfolgreichste unter den Jägern. Nicht nur Rot- und Schwarzwild brachten sie nach Hause, auch eine schöne Strecke von Kurzschwertern lag auf ihrem Wagen, Überbleibsel einer Horde marodierender Sachsenkrieger, von deren Fleisch sich nun die Raben ernährten. Es gab sie immer noch, diese Verblendeten, Anhänger des überholten Glaubens und überkommener Lebensweise, die Wortbrüchigen, welche das Treuversprechen ihrer Herren gegenüber König Karl nicht hielten. Doch sie wurden weniger. Eines Tages käme auch ihr Anführer Widukind zu Fall. Dann hätten Aberglaube, Aufruhr und Anspruchsdenken der niederen Stände ein Ende, und die gottgewollte Ordnung herrschte auch zwischen Elbe und Ijsselmeer. Norman gehörte zu den Gewinnern der neuen Zeit, musste sich nicht wie noch sein Vater in ewigen Thingsitzungen vor den Männern seines Stammes verantworten, sich gar von Bauern anklagen lassen. Er herrschte mit fast unbeschränkter Gewalt. Und jeder, der seine Macht bedrohte, wurde ausgelöscht. So war es von Gott gewollt, der doch sagte, wer nicht mit mir ist, ist wider mich. Voller Stolz ritt er durch das mächtige Tor seiner Burg. Es würde jedem Feind widerstehen, dachte er dabei.
Die Tür zum Frauengemach sprang fast aus den Angeln, so heftig stieß sie Norman auf.
"Stimmt es, was Sindolf mir berichtete?", schrie er die beiden, seine Herzogin und sein einziges Kind, an. Zitternd klammerten sich diese aneinander.
"Es ist nicht so, wie du denkst", entgegnete Erika, seine Frau.
"Was weiß schon ein Weib, was ein Mann denkt? Hat man das Kind untersucht? Ist sie noch Jungfrau?"
Erika schüttelte verzweifelt den Kopf, nicht erkennen lassend, welche der beiden Fragen sie verneinte. Doch Norman wollte seine Zeit nicht mit Reden vergeuden. Er fasste Framgard grob am Arm, drückte sie auf den Boden, schob ihr Kleid nach oben und untersuchte sie selbst. Seine schlimmste Befürchtung erwies sich als wahr.
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