1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Traudel sprang aufgeregt vor uns her, Bruno versteckte seine Neugier hinter gespielter Langeweile, Mama balancierte ihren selbstgebackenen Kuchen, den sie heil hinbringen wollte, und Papa ging gemessenen Schrittes neben ihr.
Ich war voller Spannung und Bangen. Nach der Besichtigung von Konrads „möblierter Bude“, fragte ich mich, wie es hier sein würde. Ängstlich sah ich immer wieder zu Mama und Papa je näher wir unserem Ziel kamen.
Der Sand des Weges knirschte unter unseren Füßen. Aus den angrenzenden Gärten wurden wir von neugierigen Blicken begleitet. Fremde Menschen, die unter einem Schatten spendenden Baum saßen, drehten sich nach uns um. Ein Stück weiter arbeitete jemand in seinem Garten und hielt in der Arbeit inne. Endlich entdeckte ich Konrad. Er schaute über das Gartentor hinaus nach uns. Ich begann schneller zu laufen und Traudel folgte mir.
„Konrad, hier ist es wunderschön!“, rief Mama, als sie durch die Gartenpforte trat.
„Das kann man wohl sagen“, pflichtete ihr Papa bei.
Es machte nichts, dass die hölzerne kleine Laube längst einen neuen braunen Farbanstrich gebraucht hätte - wer konnte das damals schon -. Es störte auch nicht, dass die kleinen Fenster nur zum Teil Glas hatten und sonst mit Platten vernagelt waren. Auch hier am Rande der Stadt waren sie geborsten bei einem Bombenangriff. Unter einem alten Kirschbaum hatte Konrad um einen Tisch zusammengetragen, was er an Sitzgelegenheiten zu bieten hatte. Bruno lümmelte sich gleich in einem Sessel. Traudel lief neugierig umher und zählte auf, was alles in den Beeten wuchs: Radieschen, Tomaten, Salat, Kohlrabi.
„Sogar Erdbeeren gibt es hier“, rief sie aus einer Ecke des Gartens mit vollem Mund, was verriet, dass sie genascht hatte.
„Traudel, man fragt erst“, tadelte Mama. Sie suchte einen Teller für ihren mitgebrachten Kuchen und verschwand in der Laube. Kurz darauf hörte ich sie hell auflachen.
„Katrina, komm her!“, rief sie.
Gespannt ging ich zu ihr. Sie stand in der kleinen Küche vor einem gusseisernen Herd, in dem es leise knisterte und auf dem ein dampfender Wasserkessel vor sich hin blubberte. An diesem herrlich warmen Frühsommertag trieb die Hitze, die von dem Herd ausging, den Schweiß aus allen Poren.
„Da bin ich aber neugierig, wie du mit diesem alten eisernen Gesellen fertig werden wirst“, prophezeite sie mir frohgelaunt. „In deinem neuen Leben wird wirklich alles anders sein, als du es bei uns bisher gewöhnt bist.“ Dann holte sie aus einem kleinen wackeligen Schrank einen Teller und ging zurück in den Garten.
Ich sah mich um. Der Herd wirkte auf mich wie ein altes Museumsstück. Daneben stand eine Kiste mit Holz und ein paar Kohlen. Weiter gab es noch den wackeligen Schrank einen kleinen Tisch und ein Gestell für Eimer, auch Schüsseln, worauf oben ein Krug mit Wasser stand. Richtig, ich hatte ja neben der Laube eine Wasserpumpe bemerkt. Hier gab es kein fließendes Wasser und keinen Strom. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe für die Dunkelheit. An einer Seite dieser kleinen Küche war ein Durchgang mit einer Portiere verhängt. Ich schob sie beiseite. Winzig war der Raum dahinter. Links und rechts an der Wand stand je ein schmales Bett. Konrad schien sehr ordentlich zu sein. Exakt ausgerichtet lagen Bettdecken und Kissen darauf. Gleich neben dem Durchgang gab es noch einen Schrank für Garderobe. Das war alles in dieser Laube. Wo war das Klo? Ich fand keine Tür, die dahin führen könnte. Später stellte ich fest, hinter der Laube gab es noch einen Schuppen, hier war dann auch das Klo. Ein Plumpsklo!
Ja, Mama hatte Recht, alles wird anders sein. Aber Konrad und ich werden hier zusammen leben, nur das zählte. Eigentlich war es reizvoll, ein neues Leben beginnen zu können, dachte ich und ging aus dem Dämmerlicht der Laube hinaus in den Sonnenschein zu den andern.
Mama deckte den Tisch, Bruno malte mit einem Stock Figuren in den Sand, Traudel hockte noch immer bei den Erdbeeren und Papa stand mit Konrad bei den Tabakstauden. Sie waren wieder bei ihrem Lieblingsthema. Doch ein Ruf von Mama und wir saßen alle um den Tisch. Ein sanfter Wind spielte mit den Blättern im Baum über uns. Der Kaffee dampfte aus unseren Tassen. Es roch nach Bohnenkaffee. Mama genoss jeden Schluck.
„Wo hast du den nur her, Konrad?“, fragte sie angenehm überrascht.
Viel zu schnell wurde es Abend und wir fuhren zurück in die Stadt. Gelöst und glücklich saß ich in der Straßenbahn. Ich träumte zum Fenster hinaus. Wie schön, dass Konrad diesen kleinen Garten hatte! Wurde uns mal die Stadt zu unruhig oder die „möblierte Bude“ zu dunkel, so konnten wir dorthin flüchten. Ich spürte, auch Mama und Papa waren von diesem kleinen Ausflug begeistert. Traudel fragte schon ungeduldig, wann wir das nächste Mal hinfahren.
*
Es waren schöne Wochen, die jetzt folgten, voller Vorbereitungen zur Hochzeit und aufregender Erwartung. Aber mich störte, dass man Konrad und mir kaum Zeit zum Alleinsein ließ. Auch dass die politischen Spannungen um Berlin wieder zunahmen, ängstigte mich. Dabei wollte ich von alledem am liebsten nichts hören. Ich wollte nur mit Konrad zusammen sein und mich zurückziehen in meine Traumwelt, in der ich mir unsere gemeinsame Zukunft ausmalte. Doch das Zeitgeschehen holte mich ein.
Immer wieder hatte es Spannungen und Unstimmigkeiten zwischen den Westmächten und der Sowjetunion um Berlin gegeben, weil es innerhalb der Ostzone lag. Im März hatten die Sowjets schließlich den Kontrollrat verlassen, in dem sie mit den drei Westmächten zusammen waren. Damit war die gemeinsame Verwaltung der Stadt durch die vier Siegermächte gestört.
Wieder und wieder kam es zu Behinderungen auf den vereinbarten Zufahrtswegen von den Westzonen Deutschlands durch die Ostzone zu den Westsektoren Berlins. Die Sowjets wurden nicht müde, stets neue Gründe dafür zu finden. Es gab erneut politische Debatten und Protestnoten wurden ausgetauscht. Wie oft seit Kriegsende befürchteten wir eigentlich bereits, dass ein neuer Krieg zwischen Ost und West ausbrechen könnte? Jedes Mal befiel mich dann beklemmende Angst.
Man sprach längst von der Salamitaktik der Russen, womit sie Stück für Stück versuchten, die Westmächte aus Berlin zu verdrängen. Auch in der Frage der Währung konnte keine Einigung erzielt werden. So kam es noch vor meiner Hochzeit zu zwei getrennten Währungsreformen in Ost und West von Deutschland und Berlin, hier die D-Mark und dort die Ostmark. Das bedeutete ein weiteres Stück Teilung von Berlin. Zwei Währungen gab es nun in einer Stadt.
Noch war nach all dem Geschehen die Ruhe nicht wieder eingekehrt, da flog eines Tages im Büro die Tür auf und jemand rief aufgeregt in den Raum: „Alle Wege, Straßen, Bahnen und Flüsse von den Westsektoren Berlins zu den Westzonen Deutschlands sind von den Sowjets versperrt! Nur nach Ostberlin können wir noch.“ Schon verschwand er so schnell, wie er gekommen war.
Schlagartig hörte das gleichmäßige Geräusch der Schreibmaschinen auf. Ungläubig sahen wir uns an.
„Was nun?“, fragte Brigitte.
Ja, was nun? Was wird aus meiner Hochzeit?
Mama erwartete mich bereits, als ich abends nach Hause kam. „Nun dreh nicht durch“, ermahnte sie mich. „Ich weiß zwar nicht, wie das alles jetzt gehen soll, aber heiraten wirst du. Basta!“ Dann nahm sie ihre Einkaufstaschen und rannte los, um zu sehen, was es in den Geschäften noch zu kaufen gab.
Auf dem Heimweg war mir aufgefallen, dass sich wie früher lange Schlangen vor vielen Geschäften gebildet hatten. Auch Mama hatte einige Male im Laufe des Tages angestanden, wenn es noch ein paar Kartoffeln, Mehl oder sonst was zu ergattern gab. „Wer weiß, wann es wieder etwas gibt?“, meinte sie.
Das war der Beginn der Blockade Westberlins durch die Sowjetunion. Bald donnerten die dickbauchigen Flugzeuge der Westalliierten in kurzen Abständen über unser Haus hinweg. Sie übernahmen mit dieser Luftbrücke die Versorgung der Stadt. Die bestehenden Transitwege zwischen den Westsektoren Berlins und den Westzonen Deutschlands konnten gesperrt werden, aber die bestehenden, unter den vier Siegermächten nach dem Krieg vereinbarten Luftkorridore zwischen den Westsektoren Westberlins und den Westzonen Deutschlands nicht. Auf einer Anhöhe am Tempelhofer Flugplatz sammelte sich ständig eine Schar staunender Menschen an, die ungläubig zusahen, was da alles aus den Maschinen ausgeladen wurde. Mit jedem voll geladenen Flugzeug wuchs ihre Zuversicht. Man gewöhnte sich daran, dass es nun Trockenkartoffeln und Milchpulver gab.
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