„Er bleibt stur. Wir müssen unsere Pässe hier lassen, sonst lässt er uns nicht passieren. Es ist auch schon zu spät, um bei mir im Büro anzurufen. Ich sehe nur eine Möglichkeit, wenn wir hier nicht übernachten wollen.“ Wir waren auf einmal alle hellhörig. „Wir geben ihm ein paar Dollar, damit er uns durchlässt. Wir haben zwar keinen Einreisestempel, aber das werde ich morgen über unser Büro klären.“ Wir verhandelten darüber und nahmen Heidis Vorschlag an. Hundertzehn Dollar kamen zusammen. Nicht viel, aber wir hofften, dass es reichen würde. Unsere Reiseleiterin nahm das Geld und ging abermals zu dem Wachmann.
„Alles klar. Er hat sich darauf eingelassen. Ich werde mich morgen darum kümmern und die Sache klären.“ Uns fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt kamen wir doch noch zu unserer Dusche.
Zwei Tage später sprachen wir mit unserem Hotelmanager über die Angelegenheit. Er versicherte uns, dass alles erledigt sei und die Flughafenbeamten Bescheid wüssten. Bei der Ausreise würde es keine Schwierigkeiten geben.
Eine Woche später war der Augenblick gekommen, sich von unserem Urlaubsdomizil zu verabschieden. Es war eine traumhafte Zeit, aber auch die nähere Zukunft versprach einiges. Immer wieder streichelte ich den Bauch deiner Mutter und sprach mit dir.
Wir erreichten den Flughafen und ich hoffte, dass es keine Komplikationen gab.
Als wir an der Reihe waren, gab deine Mutter dem Beamten unsere Pässe. Er begann darin zu blättern und schaute uns mürrisch an. Sein Blick ließ ahnen, dass er nichts von unserem Malheur wusste. Er fragte etwas auf Spanisch, was wir nicht beantworten konnten. Die Schlange hinter uns wurde länger, und die ersten Passagiere begannen, ungeduldig zu tuscheln. Der Beamte rief einen Kollegen hinzu, der ebenfalls in unsere Pässe schaute. Auch er fragte uns etwas. Ich zuckte mit den Schultern und versuchte ihm auf Englisch zu erklären, was vorgefallen war. Schließlich nahm der zweite Beamte unsere Pässe und deutete uns an, ihm zu folgen. Deine Mutter hielt vergebens Ausschau nach unserer Reiseleiterin.
„Hoffentlich kriegen wir jetzt keinen Ärger.“ Deine Mutter sprach aus, was ich dachte. Wir folgten dem Beamten in sein Büro. Es war klein und roch muffig. Ein Deckenventilator verteilte die schlechte Luft. Wir nahmen Platz, und er begann abermals, uns in Spanisch zu befragen. Mit Händen und Füßen versuchte deine Mutter, ihm die Sache zu erklären. Ich sah schon die Schlagzeile in Deutschland vor mir.
Bestsellerautor in der Karibik verhaftet!
Plötzlich sah ich Heidi in die Vorhalle kommen. Ich sprang auf und gab dem verdatterten Beamten nicht die Chance zu reagieren.
„Heidi! Sie sind unsere Rettung.“ Mit wenigen Worten erklärte ich ihr, in welcher Situation wir uns befanden. Heidi kam mit und erklärte dem Beamten, warum wir keinen Einreisetempel hatten. Nach einem kurzen Telefonat stempelte er schließlich unsere Pässe ab.
Als wir in letzter Minute die Maschine erreichten, trafen uns die bösen Blicke der Passagiere. Erleichtert ließen wir uns in die Sitze fallen und begannen, herzhaft zu lachen.
„Da hast du doch schon eine tolle Idee für einen neuen Roman“, scherzte deine Mutter.
„In einem Roman würden wir jetzt im Gefängnis sitzen oder auf der Flucht durch den dominikanischen Dschungel sein.“ Ich beugte mich zu ihr herüber. „Danke, für jeden Tag, den ich mit dir verbringen kann.“ Dann küsste ich deine Mutter. Es war das größte Glück auf Erden.
Heftig schlug Katarina das Tagebuch zu.
Tränen liefen über ihr Gesicht. Es fiel ihr schwer, Olivers Zeilen zu lesen. Ihre Gedanken kreisten um das Gelesene und Katarina musste eine Pause machen. Sie konnte den Inhalt nur in kleinen Mengen aufnehmen. Das Tagebuch ließ alle längst verdrängten Gefühle aufleben. Immer wieder beschäftigte sie die Frage, wann Oliver das Tagebuch geschrieben hatte. Es war ihm wirklich gelungen, Katarina nichts davon mitbekommen zu lassen. Erneut schossen Tränen in ihre Augen. Diesmal nicht wegen der Zeilen, die sie gerade gelesen hatte, sondern als Reaktion auf die Dinge, die sich in ihrem Leben bisher abgespielt hatten.
Sie fühlte sich allein. Unsagbar allein. Sie schlang die Arme um ihre Knie und verspürte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Leopold schien ihre Gedanken zu erraten, sprang zu Katarina auf die Couch und schmiegte sein Köpfchen an.
Doch wen sollte sie anrufen? Mit Mark konnte und wollte sie nicht über das Tagebuch reden. Sie wusste, dass es ihn verletzen würde, auch wenn er es ihr gegenüber nicht zugeben würde.
Pat? Nein.
Obwohl sie Pat schon eine Ewigkeit kannte, war sie die Letzte, mit der sie reden wollte. Auch ihre anderen Freundinnen, sofern man sie noch so nennen konnte, hakte Katarina eine nach der anderen ab. Sie hatte sich in letzter Zeit total isoliert und niemanden an sich herangelassen.
Ihr Blick schweifte über das CD-Regal. Toni Braxton, Whitney Houston, Vanessa Williams. Katarina hatte eine Schwäche für farbige Sängerinnen. Sie erhob sich und legte eine CD von Nathalie Cole auf.
Unforgettable.
Plötzlich wusste sie, wen sie anrufen würde. Sie griff zum Telefon und rief ihre Eltern an. Während der Apparat die Nummer wählte, versuchte Katarina sich das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen. Gedanken an ihre Kindheit schossen ihr in den Kopf.
Sie wuchs wohlbehütet in einer intakten Familie auf. Ihr Vater führte ein Exportunternehmen und war die Idealvorstellung eines Mannes gewesen zumindest, bis sie Oliver kennen gelernt hatte. Katarina war ein Wunschkind. Obwohl ihre Eltern durch das eigene Unternehmen viel zu tun hatten, verbrachten sie jede freie Minute mit ihrer Tochter. Heute verlebten sie ihren Lebensabend in der Toskana. Trotz der Entfernung war der Kontakt noch ausgezeichnet.
„Wolf.“
„Hallo Mama. Ich bin es.“
„Kati, mein Schatz! Das ist aber schön, dass du dich meldest.“ Katarina konnte das Lächeln ihrer Mutter Anke vor sich sehen. „Wie geht es dir?“
„Ich habe im Augenblick furchtbar viel zu tun. Die Kanzlei läuft besser, als ich erwartet habe.“ Gedanken kreisten in ihrem Kopf herum. Sollte sie ihrer Mutter von dem Tagebuch erzählen?
„Wie geht es Vati?“
„Ausgezeichnet. Er bewundert gerade seine Weinreben. Du kennst ihn ja. Willst du uns nicht endlich besuchen kommen? Du warst schon so lange nicht mehr bei uns.“
„Ich weiß. Aber im Augenblick geht es wirklich nicht. Ich habe noch zwei wichtige Aufträge, die sich die nächsten Wochen hinziehen werden.“
„Aber du musst auch einmal pausieren, Schatz. Ein freies Wochenende würde dir sicher gut tun.“
„Tut mir leid, Mama. Aber ich verspreche euch zu besuchen, sowie es in der Kanzlei etwas ruhiger wird.“
Erzähl ihr von dem Tagebuch.
„Und sonst ist alles in Ordnung?“, fragte ihre Mutter. Sie wusste, dass Katarina jemanden kennen gelernt hatte, der ihr nicht gleichgültig war, obwohl sie noch nie offen mit ihrer Mutter über Mark gesprochen hatte. Aber ihre Mutter hatte einen sechsten Sinn dafür, wenn es Veränderungen in Katarinas Leben gab.
Sag es ihr, dachte Katarina. Erzähl ihr von deinem Fund.
„Alles bestens.“ Katarina machte eine längere Pause. „Das heißt, eigentlich nicht. Mir schwirren so viele Dinge im Kopf herum.“
„Aber das ist doch verständlich, Schatz. Du brauchst Zeit, um alles zu verarbeiten. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn du ein paar Tage zu uns kämst.“
Erzähl es ihr. Sie wird dich verstehen. Vielleicht kann sie dir einen Rat geben.
Aber Katarina brachte die Worte nicht über die Lippen. Es war wie ein Kloß, der in ihrer Kehle saß und ihr die Luft abschnürte.
Sie sprach noch eine weitere Viertelstunde mit ihrer Mutter, ohne sich überzeugen zu lassen, in die Toskana zu fahren.
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