1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 Es ging dabei auch völlig unblutig zu, und ihr Elend hatte bald ein Ende.
Und Line fühlte sich gut und als Retterin.
Zufrieden sah sie ihnen hinterher, wenn sie glücklich über das Fleet flogen.
Aber kaum waren sie weg, hatten schon die beiden nächsten Libellen das gleiche Problem. Und auch denen konnte Line sofort helfen.
Ebenso erbarmte sie sich im Sommer auch der Junikäfer, die sie in unbequemer Haltung auf den flachen, weißen Schafgarbenblüten entdeckte, und die an herrlichen Sonnentagen unglücklich übereinander kauerten, weil auch sie unten zusammengeklebt waren.
Die rotbraunen Käfer reagierten im Gegensatz zu den sanften Libellen aber immer ein wenig trotzig auf Lines gut gemeinte Hilfe und kleckerten ihr einen bitter riechenden, rotbraunen Saft auf die Finger.
Aber das kannte sie schon von den kleinen Marienkäfern mit dottergelbem Saft und nahm es ihnen nicht weiter übel.
Voller Stolz erzählte Line ihrer Mutter von ihrer barmherzigen Rettungsaktion, die sie den
bedauernswerten Libellen hatte angedeihen lassen und begriff einfach nicht, warum sie die Geretteten zu einem völlig falschen Zeitpunkt, nämlich erst, nachdem Line sie aus ihrer prekären Lage befreit hatte, bedauerte mit: „Ach, das hast du gemacht? Die Armen!“
„Aber sie brauchen dir nicht leid zu tun, ich habe sie doch gerettet“, rief Line, und ihre Mutter strich ihr über den Kopf und sagte: „Es ist gut, Line!“
Und dabei lächelte sie, und Line war dann sehr zufrieden.
So erlebte Line ganz bewusst den Frühling und das Erwachen der Natur nach dem langen Winter und danach den Sommer in seiner grenzenlosen Fülle von Hitze, Schwüle, Gewittern Insekten und hin und wieder Essbarem von Feld und Flur.
Es war abends lange hell, und am Morgen gab es nicht nur ein Vogelkonzert in den hohen Eichen, sondern sie hörte das muntere Zwitschern von überall her, noch bevor sie von ihrer Mutter geweckt wurde. Dann sprang sie aus dem Bett und schaute neugierig aus dem Fenster zu dem Nest in einer der alten Eichen, in dem vor einiger Zeit die kleinen Tauben geschlüpft waren, die nun bald flügge werden würden. Line hatte selbst auch das unsagbar stolze Gefühl, schon ziemlich groß zu sein, wenn ihre Mutter ihr mitteilte, dass sie am Abend gerne mal wieder ohne sie einen Besuch machen würde. Und damit Line nicht alleine in der Wohnung blieb, wurde ihre zwei Jahre ältere Cousine angefordert, die aufgrund ihrer Stellung als
„Aufpasserin“ mit einem außerordentlich vernünftigen Gesichtsausdruck ihren Posten einnahm.
Birte blieb dann auch über Nacht.
Niemals wurde kostbare Zeit mit Schlafen vergeudet, wenn Lines Mutter dann abends mit lautem Krach den Schlüssel im Schloss umdrehte und Line und Birte aufmerksam auf ihre Schritte auf der Treppe nach unten lauschten.
Birtes Verantwortung wurde alsbald von Phantasien ersetzt, die keine Grenzen kannten, wie diese Stunden ohne Aufsicht zu ihrer und Lines Freude gestaltet werden konnten. Sie zögerte nie lange und setzte ihre Vorstellungen schnell in die Tat um, nachdem sie sich gründlich in den Zimmern umgeschaut hatte.
Zwischen den beiden hohen Fenstern des Wohnzimmers, stand hochkant eine sehr dicke, schwere Federkernmatratze in einem breiten Holzrahmen mit der Vorderseite zur Wand, so dass auf der Rückseite die rostigen Federtürmchen deutlich zu erkennen waren, die in gleichmäßigen Abständen mit grauen Bindfäden fest zusammen- und auch aneinandergezurrt waren.
Die Matratze stand dort, seitdem Lines Vater eine altersbedingt übliche Neuorientierung hinsichtlich seines Familienstandes vorgenommen hatte, wie Linas Mutter das gut vorbereitete „Fernbleiben dieses Herren für immer“, nannte, um zu erklären, warum sie Line seit dem Himmelfahrtstag letzten Jahres allein erzog.
Und deshalb befand sich Lines Mutter mit Lines Vater jetzt auch in einer Art Kompromiss, der schlimm und in finanzieller Hinsicht mehr als ein Desaster war.
Und Line befand sich in einer miserablen Situation, die sie dazu zwang, die zweite Hälfte ihrer Gefühle beisammen zu halten und die Sehnsucht nach ihrem Vater ziehen zu lassen, wohin, das wusste sie nicht.
Line sprach mit niemandem über das, was sie so sehr beunruhigte, schmerzte, was sie sich nicht erklären konnte und was sie hilflos quälte, wenn sie unverständliche Dinge während der langen und sich immer wiederholenden Diskussionen zwischen ihrer Mutter und den Großeltern verfolgte, die laut genug hinter der geschlossenen Tür zu hören waren. Dann drehte sie das Ende eines ihrer beiden dicken Zöpfe schnell und schneller um ihren Zeigefinger, saß gefangen in ihrem Kummer da und ertrug schmerzlich, was sie ertragen musste.
Über die Federkerne der Matratze waren breite, blaugestreifte Gurte gespannt, die an einigen Stellen schon ziemlich ausgeleiert waren. Ohne Umstände steckte Birte ihre Füße in die Federkerne und kletterte an der Matratze nach oben.
Bedächtig setzte sie sich auf die Kante des Holzrahmens.
Aus zwei Meter Höhe schaute sie dann zufrieden auf Line hinunter.
Das Kribbeln, das Birte dann in ihrem Bauch spürte, beschrieb sie als „Fingerspitzengefühl“, als ganz einzigartig, merkwürdig schön, und als „das musst du auch mal erleben, Line“.
Und so mühte Line sich ab, zu Birte nach oben zu klettern, um auch dieses wunderbare „Fingerspitzengefühl“ zu haben und hatte es dann endlich geschafft.
Sogar die schwierige Drehung, die erforderlich war, um so auf der Matratze zu sitzen, wie ihre Cousine. Es war sehr hoch, sie befand sich in geringem Abstand zu der Zimmerdecke, und ihr wurde klar, wie schwierig der Abstieg werden würde.
Und dann wartete Line auf das versprochene, verheißungsvolle „Fingerspitzengefühl“.
Doch sie wartete vergeblich.
Es wollte sich bei ihr einfach nicht einstellen.
Was sich jedoch einstellte, das war ein leichter Schwindel, der schließlich so stark wurde, dass sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
Zaghaft griff sie mit einer Hand nach dem Draht über sich, der vor langer Zeit von ihrem Vater als Antenne für das Radio, das Volksempfänger genannt wurde, unter der Zimmerdecke hin- und hergespannt worden war.
Der Draht war für Line jetzt wie eine Rettungsleine und schien ein sicherer Halt zu sein.
Doch plötzlich hatte sie das Gefühl, kopfüber von der Matratze auf den Holzfußboden zu stürzen und umklammerte nun mit beiden Händen fest den Draht, schaute in die Tiefe und hätte alles darum gegeben, dort unten zu sein.
„Wenn du nicht schwindelfrei bist, dann guck bloß nicht nach unten“, mahnte Birte, und Line starrte daraufhin an die Zimmerdecke, dann zur Hängelampe und schließlich ängstlich hinüber zur großen, verschnörkelten Krone des riesigen, weißen Kachelofens, die sich leicht zu bewegen schien. Das konnte doch nicht an ihrem leichten Schwindel liegen, dass sich die Krone erst wenig und dann mehr und mehr vor- und zurückbewegte und schließlich sogar zu tanzen begann. Line begriff in Sekundenschnelle, dass diese Wahrnehmung aber durchaus stimmte.
Die große Ofenkrone bewegte sich tatsächlich.
Das Ende des Drahtes war an der Krone befestigt, und die schwankte gerade wieder ganz erheblich, erst vor und dann zurück und wieder vor.
Line starrte entsetzt auf das Unglaubliche und begriff zu ihrem Schrecken, dass sie selbst es war, die das verursachte.
Und bevor sie noch etwas ändern oder sagen konnte, kippelte die Krone ein letztes Mal nach hinten und dann ganz weit nach vorn.
Mit einem Satz sprang Birte von der Matratze, als würde sie Schreckliches ahnen, als wäre eindeutig zu erkennen gewesen, was in wenigen Sekunden geschehen würde. Der Sprung zwang sie auf den Fußboden. Sie sprang auf und stand mit beschwörend erhobenen Händen vor dem Kachelofen, als wollte sie verhindern, was sogleich herabstürzen wollte, sie war bereit, die Krone aufzufangen!
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