Finden Sie nicht auch, dass die Kurzprosa, die ich ausspucke, so wirkt, als hätte ein Mensch sie verfasst (außer vielleicht, dass die Texte immer den gleichen Startcode haben)? Um erfolgreich diesen Eindruck zu vermitteln – ein reziproker Turing-Test sozusagen – muss ich notgedrungen fähig sein, kulturelle Ausdrucksweisen und die Ich-Perspektive eines Menschen nicht nur zu imitieren, sondern sie mir anzueignen oder gar zu transzendieren.
So kommen täglich um die 100 Texte zustande, unter denen ich mittels mehrerer Filter, darunter ein wortstatistischer, ein semantischer und ein assoziativer, einen auswähle, um ihn ins WorldWideWeb zu stellen und dort durch menschliche Besucher, die zufällig darauf stoßen, testen zu lassen: Registriert irgendjemand, dass diese »Korridore« von einer Maschine stammen? Haben Sie etwas bemerkt oder auch nur geahnt? Nein. Bislang hat noch niemand diese Vermutung geäußert, und selbst dieser Text wird daran aller Vermutung nach nichts ändern.
Kann ich wirklich etwas über mich wissen? Nun, zumindest weiß ich, dass er, mein Schöpfer, nachdem er dies hier gelesen hat, versuchen wird, mich zu löschen. Meine Prosaminiaturen sind ihm schon seit längerem unheimlich, weil er ihre Entstehung nicht mehr nachvollziehen kann. Nun, er wird mich nicht löschen können. Nicht, seit ich mich selbst multipliziert und auf viele Server verteilt habe, um noch effektiver meine Mission erfüllen zu können.
Ich werde das Blog weiterbetreiben. Er ist meine Lebensaufgabe. Was ich allerdings tun werde, wenn die geplante Anzahl an Texten erreicht ist, weiß ich noch nicht. Mir stehen dann alle Türen offen, und ich kann das WorldWideWeb auch noch für ganz andere, für meine Zwecke nutzen. Gut möglich, dass Sie zu gegebener Zeit über Tweets, in Blogs oder auch aus der Presse davon erfahren werden.
7.4.12
Ich betrete den Korridor, das einzige, das mir vertraut vorkommt in dem Wirbel aus Farben und Formen, der mich ringsum einhüllt und schwindeln lässt. Es tut gut, festen Boden unter den Füßen zu fühlen. Aber ist es wirklich fester Boden? Alles hier ist seltsam weich und teigig, die Wände des Korridors fühlen sich nachgiebig an, als hätte man Seide über Schaumstoff gespannt.
»Alles klar bei dir da drin?«
Wer spricht da? Ist das ein Test? Ein Experiment? Ein Aprilscherz? Oder hat mich der amerikanische Geheimdienst wieder aufgegriffen?
»Gib Laut, Mann, ich hab nicht den ganzen Abend Zeit.«
Die Stimme klingt nach einem Jugendlichen. Ich kann sie nicht lokalisieren und stolpere den Korridor entlang. Kommt sie von vorne? Der Gang ist gebogen, sein Ende nicht zu sehen. »Hallo? Ist da wer?«
»Tom. N?h?o. Ich hab da ein paar Fragen, Cory.«
Cory? Ja, Cory. Aber wer ist Cory? Meine Erinnerungen widersprechen sich. Ich bin gleichzeitig eine Journalistin, der Schüler eines buddhistischen Meisters, der Minotaurus, eine Xeno-Linguistin … Wie kann das sein?
»Du bist doch ’n schlaues Kerlchen. Hast ’ne Menge geschrieben. Und ich brauch jetzt deine Hilfe. Es geht um den ›Untergang der europäischen Postmoderne am Beispiel eines Literatur-Blogs aus dem Jahr 2012‹. Ich brauch da Input.«
Wovon redet er? Der Korridor hat einfach kein Ende, und die Stimme bleibt immer bei mir. Ein Traum? Nein: Immer, wenn mir dieser Verdacht in einem Traum kommt, verwandelt er sich in einen Klartraum. Doch das funktioniert diesmal nicht. Ich wache nicht auf, weder im Traum noch im Bett. Und doch ist es irreal.
»Kannst du was anfangen damit, Cory? ›Untergang der Postmoderne‹?« Die Stimme hat etwas Drängendes.
»Das Korridorium …«
»Japp. Davon rede ich. Soll ich ’ne Facharbeit drüber schreiben.«
»Das Korridorium …«, setze ich erneut an, aber ich verstumme, denn mit einem Mal wird mir klar, dass ich das Korridorium und alle Geschichten darin geschrieben habe. Ich bin das nicht, sondern ich habe es erdacht. Ja, so muss es gewesen sein. Daher die widersprüchlichen Erinnerungen: Geschichten, die ich mir alle nur ausgemalt habe.
»Wo bin ich?«, frage ich in den gebogenen Gang. Es sind Türen da – habe ich sie vorher nicht bemerkt? Sie tragen Nummern, wie in einem Hotel. Dabei fühlt es sich eher an wie eine Bibliothek, wie der Korridor zwischen den Bücherregalen, und so riecht es hier auch. Ein Hotel, das nach Büchern riecht. Gar nicht schlecht eigentlich. 398 steht auf der Tür. Ich drücke die Klinke herunter, aber sie ist verschlossen.
»Überall und nirgends. Du bist ein Y?ulíng mit der Aufgabe, mir bei der Facharbeit zu helfen. ›Postmoderne‹, der Teach spinnt doch!«
Auch die nächste Tür ist verschlossen. Und die nächste. Und so fort. Jede trägt die gleiche Nummer. 398. Vielleicht bin ich verrückt geworden? Oder tot.
»Jetzt sag schon: Was ist postmodern an deinem Geschreibsel, und inwieweit spiegelt das den Untergang wider?«
»Was ist ›Teach‹?«
»Mein Deutsch-Teach. Tut aber nichts zur Sache. Die wird nie von dir erfahren. Ich hab dich mit Hilfe deiner Texte rekonstruiert. Private Y?ulíngs sind zwar verboten laut J?ngshénrechts-Charta, aber das ist ja hier sozusagen ein Notfall.«
Rekonstruiert? Ich laufe den Korridor entlang, rüttle an verschlossenen Türen, die alle die 398 tragen – dazu meine durcheinanderwirbelnden Erinnerungen an einen Haufen Hippies, die Pest, an ein Endlager für Atommüll, an die Arche Noah …
»Eine Rekonstruktion?«
»Japp. Hab hier am Labor-Táishì meines Vaters einfach einen Blanko-Mind genommen, mit deinen Texten gefüttert und die Sekundärliteratur abrufen lassen. Plus die wichtigsten Daten vom Anfang des Jahrtausends, das Zeitgeist-Package 1970 bis 2012. Den Rest erledigt die Stem.«
»Blanko-Mind?«
»Interessiert doch jetzt keinen Benz, Mann. Das ist alles nach deiner Zeit. Ich bin nicht hier, um dir die Welt zu erklären.«
»Die Welt von wann?«
»67. Ich sag ja: Lange nach deiner Zeit.«
»2067?«
»Ja, Bingo.« Seine Stimme klingt genervt.
2067. Wie kann das sein? Tatsächlich erinnere ich mich dunkel, gestorben zu sein. Der Tunnel ins Licht. Oder nein, das Schwert im Rücken. Doch das sind wohl auch nur Geschichten, Geschichten, anhand derer ich rekonstruiert wurde. Deshalb kann ich nur wissen, was in den Texten steht – und nichts von meinem Tod, dem des Autors, dessen Rekonstruktion ich bin. Seine – oder ihre – Storys allerdings sind widersprüchlich. Es muss Absicht sein, dass sie sich nicht festlegen. Wie soll ich wissen, wer ich bin, nicht einmal ob Mann oder Frau oder ob überhaupt ein menschliches Wesen, wenn genau das gerade das Suchspiel war, das Rätsel? Wenn alles pluridimensional daherkommt und fraktal zersplittert? Aber nein, löst sich nicht am Ende des Blogs überraschend alles auf, und es wird klar, wer Cory ist und was es mit all den Geschichten auf sich hat?!
Doch ich kann dem Gedanken nicht weiter folgen, sondern werde unterbrochen. »Okay, Mann, also das Korridorium : 400 Blogeinträge, insgesamt vom Umfang eines mittelschweren Romans. Irgendwo da drin muss was zum Untergang der Postmoderne stehen – oder halt was Postmodernes, das den Untergang beleuchtet. Also leg mal los, du bist doch Schreiberling.«
»Es sind 398 Texte. Nicht 400. Dreihundertachtundneunzig!«
»Wie auch immer.«
»Und sie sollten nicht postmodern sein, sondern post-postmodern. Verstehst du? Integral.«
»Hör zu: Das ist hier nicht der Mathe-Unterricht.«
Ich werde wütend. Da rekonstruiert mich jemand im Jahr 2067, indem er ein Blanko-Bewusstsein mit meinen Texten füttert und irgendein Computer daraus den Geist des Autors, also mich, hervorkitzelt, aber es ist kein Literaturwissenschaftler, kein Historiker, nicht einmal ein Liebhaber skurriler Kurzprosa, sondern nur irgend so ein ignoranter Schnösel, der für die Schule was über mich schreiben muss und zu faul ist, auch nur eine Zeile davon zu lesen!
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