Cory d'Or
Korridorium – fraktale Romanzen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Cory d'Or Korridorium – fraktale Romanzen Dieses ebook wurde erstellt bei
Vorwort Vorwort ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
5/398 5/398 15.11.11 Ich im Korridor. trag Kaminholz zum Salon: Warm war’s nur mit dir. Ich – im Korridor amaryllisduftumflort – wünsch dich mir zurück. Ich, im Korridor, häng nun doch das Foto ab: Bist so lang schon fort. Ich im Korridor? Ruft mich nicht das Mondlicht raus? Worauf wart ich noch? Ich im Korridor: Hab ganz plötzlich dich im Arm, ob wohl …? Nur im Traum!
107/398 107/398 25.2.12 »Ich betrete den Korridor« steht oben in meinem Heft. Alle anderen schreiben fleißig. Ich starre auf meine krakeligen Buchstaben. Ana tritt zu mir ans Pult – unsere Deutschlehrerin, die möchte, dass wir sie mit Vornamen anreden, aber ich sage lieber »Frau Ried« oder am liebsten überhaupt nichts, wenn sie so vor mir steht und ich sie riechen kann, dass mir ganz komisch wird von ihrem Geruch nach frischen Äpfeln, und mein Mund wird ganz trocken davon. »Lass deiner Kreativität freien Lauf, schreib einfach, was dir dazu einfällt«, ermuntert sie mich. Ich blicke starr auf mein Heft, weil ich weiß, wenn ich sie ansehe, dann passieren ganz seltsame Dinge mit mir, und ich werde ganz rot und muss plötzlich stottern und so. »Na los schon! ›Ich betrete den Korridor.‹ Und dann einfach weiter, was dir so in den Kopf kommt.« Ich setze den Stift aufs Papier. Er zittert. Hoffentlich merkt sie es nicht. Ich fange an zu schreiben. Frau Ried wendet sich ab. Ich schreibe und schreibe. Immer dasselbe, immer den gleichen Satz. »Ich betrete den Korridor. Ich betrete den Korridor. Ich betrete den Korridor. Ich betrete den Korridor. Ich betrete den Korridor …«
124/398 124/398 13.3.12 Ich betrete den Korridor, den ich in den letzten Wochen schon so oft betreten habe. Hinter dieser weißen Tür dort liegst du, und eine Maschine hilft dir beim Atmen. Plötzliche Gehirnblutungen haben dich binnen weniger Stunden ins Koma fallen lassen, und die Ärzte meinen, in deinem Kopf sei zu viel zerstört, als dass man hoffen könnte, eines Tages wachst du wieder auf und bist wieder ganz dieselbe. Ich halte deine Hand. Das Blubbern und Zischen der Herz-Lungen-Maschine hat etwas Beruhigendes und Meditatives – aber erst, seitdem ich meinen Protest gegen all das hier, meine Wut, mein Unverständnis, meine Verzweiflung und mein Hoffen auf ein Wunder endlich losgelassen hatte. Wenn wir allein sind, erzähle ich uns leise von unseren gemeinsamen Erfahrungen, den Reisen, den Filmen, die wir gesehen haben, Feiern, Seminaren und Treffen mit Freunden – oder einfach nur von kleinen skurrilen Alltagserlebnissen, die mir in den Sinn kommen. Manchmal spiele ich auf dem kleinen Cassettenrecorder auch deine Lieblingsmusik ab. Menschen leiden und sterben auf der ganzen Welt – ständig. Warum tut es mir so weh, dich hier liegen zu sehen, während all die anderen mir gleichgültig sind? Fast unhörbar leise stelle ich dir die Frage, stelle mir vor, du könntest zu mir sprechen, und du sagst: Ich leide nicht – du leidest. Und dann, einige Augenblicke lang, ein paar Atemzüge der Herz-Lungen-Maschine lang, ist es, als würdest du meine Hand halten und mir mit deinem stillen Einfach-nur-Dasein Trost, Mut und Hoffnung geben. Heute schalten sie die Maschinen ab, und du wirst in ein Hospiz verlegt. Ich habe ein gemütliches kleines Zimmer für dich ausgesucht: Durch das Fenster sieht man Bäume, und man kann die Vögel singen hören, obwohl es mitten in der Stadt liegt. Es wird dir gefallen. Und wenn du nicht mehr magst, kannst du gehen. Ich halte zwar immer noch deine Hand, aber ich halte dich nicht mehr fest.
131/398 131/398 20.3.12 Ich betrete den Korridor. Es ist der Korridor meiner Erinnerungen. Hier stapeln sich Orte, Erlebnisse, Anekdoten, Bücher, Gespräche, Gefühle, und es liegen jede Menge halbgare Ideen herum. Mein Blick fällt auf die Zeiten mit dir: Sie schimmern und funkeln geheimnisvoll, als leuchteten sie aus sich selbst heraus. Ich wende mich um. Ich bin gerne hier, aber bleiben möchte ich nicht. Es ist noch Platz im Korridor. Neue Erinnerungen sollen her. Und am liebsten noch mehr mit dir .
167/398 167/398 25.4.12 Ich betrete den Korridor nie wieder. Nachdem ich als akuter Notfall eingeliefert wurde, haben sie mich im Krankenhaus erst einmal mit Medikamenten ruhiggestellt und bei mir die Sucht (die Fachleute sprechen von »Zwangsstörung«) diagnostiziert, ständig Korridore betreten zu müssen. Deshalb wurde ich an eine Entzugsklinik überwiesen. Dr. A. Einrad, meine hübsche, aber sehr strenge Therapeutin, setzt eine Mischung aus dem 12-Schritte-Katalog der Anonymen Alkoholiker und einer Verhaltenstherapie ein, um mich von dem inneren Zwang zu heilen, bei jeder Gelegenheit unkontrolliert in Flure und Gänge hineinlaufen zu müssen. Wir halten uns viel im Freien auf, und ich betrete unter ihrer Anleitung Lichtungen, Haine, Pilzkreise, Halbinseln, Steinbrüche und Hügelkuppen. Manchmal – bei einem Hohlweg beispielsweise – stockt mir kurz der Atem, und ich spüre wieder den übermächtigen Drang in mir hochkriechen. Aber von Mal zu Mal wird es besser. Nicht so, wenn ich an die Liste denke, die mich meine Therapeutin anlegen ließ. Im Rahmen einer gründlichen und mitleidslosen Inventur förderte sie mir mir all die zutage, die durch mich und meine Sucht geschädigt wurden: Familienmitglieder, Freunde, ahnungslose Hausbesitzer, Museumsangestellte, Wachleute, meine Leserinnen und Leser … Dennoch: Ich fühle mich hier in guten Händen und kann hoffen, nicht wieder rückfällig zu werden. Letzten Endes tut es einfach gut, zu wissen, dass ich machtlos gegen die Korridore bin und nur etwas, das größer ist als ich, mich davor bewahren kann, ihnen wieder zu verfallen. Und am Ende der Therapie, mit Gottes Hilfe, werde ich ein kleines und bescheidenes, sicheres, behütetes und vor allen Dingen korridorfreies Leben führen können.
185/398 185/398 13.5.12 Ich betrete den Korridor. Aus dem Behandlungsraum dringt das Stöhnen einer Frau. Ich klopfe und trete ein, lege dem Maître die gewünschten Magnete auf den Tisch. Er hält seine Hände über seine Patientin, beachtet mich nicht weiter und murmelt: »Das Fluidum muss fließen, das unsichtbare Feuer des Lebens muss die Krise entfachen, um den Weg zur Heilung zu ebnen.« Dann greift er nach den Magneten und führt sie am Körper der Frau entlang, die schwer atmet und die Augen verdreht. Auch ich habe mich schon als Magnetopath versucht, mir die Heilsteine des Maître heimlich ausgeliehen und über dem sich langsam wölbenden Bauch meiner Freundin geschwenkt, dem Zimmermädchen des Maître, Eloise. Auch sie hat die Augen verdreht, aber doch wohl eher deshalb, weil sie mich und meine halblauten Beschwörungen ziemlich lächerlich fand. Sie ist dann doch zur Engelmacherin gegangen. Vielleicht sind es auch gar nicht die Magneten, sondern es ist der Maître selbst, sein eigener Magnetismus animalis , der die Reaktionen seiner Patientinnen und die wunderbaren Heilungen verursacht? Ich hoffe immer noch, dass er mich als Schüler annimmt und in seine Geheimnisse einweiht. Mit einer ungeduldigen Handbewegung entlässt er mich. Ich trete wieder in den Korridor. Lange noch lausche ich an der Tür, wie er mithilfe seiner Magnete und Beschwörungen die Blockaden der Frau Stück für Stück zum Schmelzen bringt.
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