Es wird dir gefallen.
Und wenn du nicht mehr magst, kannst du gehen. Ich halte zwar immer noch deine Hand, aber ich halte dich nicht mehr fest.
20.3.12
Ich betrete den Korridor. Es ist der Korridor meiner Erinnerungen. Hier stapeln sich Orte, Erlebnisse, Anekdoten, Bücher, Gespräche, Gefühle, und es liegen jede Menge halbgare Ideen herum.
Mein Blick fällt auf die Zeiten mit dir: Sie schimmern und funkeln geheimnisvoll, als leuchteten sie aus sich selbst heraus. Ich wende mich um. Ich bin gerne hier, aber bleiben möchte ich nicht. Es ist noch Platz im Korridor. Neue Erinnerungen sollen her. Und am liebsten noch mehr mit dir .
25.4.12
Ich betrete den Korridor nie wieder.
Nachdem ich als akuter Notfall eingeliefert wurde, haben sie mich im Krankenhaus erst einmal mit Medikamenten ruhiggestellt und bei mir die Sucht (die Fachleute sprechen von »Zwangsstörung«) diagnostiziert, ständig Korridore betreten zu müssen. Deshalb wurde ich an eine Entzugsklinik überwiesen. Dr. A. Einrad, meine hübsche, aber sehr strenge Therapeutin, setzt eine Mischung aus dem 12-Schritte-Katalog der Anonymen Alkoholiker und einer Verhaltenstherapie ein, um mich von dem inneren Zwang zu heilen, bei jeder Gelegenheit unkontrolliert in Flure und Gänge hineinlaufen zu müssen.
Wir halten uns viel im Freien auf, und ich betrete unter ihrer Anleitung Lichtungen, Haine, Pilzkreise, Halbinseln, Steinbrüche und Hügelkuppen. Manchmal – bei einem Hohlweg beispielsweise – stockt mir kurz der Atem, und ich spüre wieder den übermächtigen Drang in mir hochkriechen. Aber von Mal zu Mal wird es besser. Nicht so, wenn ich an die Liste denke, die mich meine Therapeutin anlegen ließ. Im Rahmen einer gründlichen und mitleidslosen Inventur förderte sie mir mir all die zutage, die durch mich und meine Sucht geschädigt wurden: Familienmitglieder, Freunde, ahnungslose Hausbesitzer, Museumsangestellte, Wachleute, meine Leserinnen und Leser …
Dennoch: Ich fühle mich hier in guten Händen und kann hoffen, nicht wieder rückfällig zu werden. Letzten Endes tut es einfach gut, zu wissen, dass ich machtlos gegen die Korridore bin und nur etwas, das größer ist als ich, mich davor bewahren kann, ihnen wieder zu verfallen. Und am Ende der Therapie, mit Gottes Hilfe, werde ich ein kleines und bescheidenes, sicheres, behütetes und vor allen Dingen korridorfreies Leben führen können.
13.5.12
Ich betrete den Korridor. Aus dem Behandlungsraum dringt das Stöhnen einer Frau. Ich klopfe und trete ein, lege dem Maître die gewünschten Magnete auf den Tisch. Er hält seine Hände über seine Patientin, beachtet mich nicht weiter und murmelt: »Das Fluidum muss fließen, das unsichtbare Feuer des Lebens muss die Krise entfachen, um den Weg zur Heilung zu ebnen.« Dann greift er nach den Magneten und führt sie am Körper der Frau entlang, die schwer atmet und die Augen verdreht.
Auch ich habe mich schon als Magnetopath versucht, mir die Heilsteine des Maître heimlich ausgeliehen und über dem sich langsam wölbenden Bauch meiner Freundin geschwenkt, dem Zimmermädchen des Maître, Eloise. Auch sie hat die Augen verdreht, aber doch wohl eher deshalb, weil sie mich und meine halblauten Beschwörungen ziemlich lächerlich fand. Sie ist dann doch zur Engelmacherin gegangen.
Vielleicht sind es auch gar nicht die Magneten, sondern es ist der Maître selbst, sein eigener Magnetismus animalis , der die Reaktionen seiner Patientinnen und die wunderbaren Heilungen verursacht? Ich hoffe immer noch, dass er mich als Schüler annimmt und in seine Geheimnisse einweiht. Mit einer ungeduldigen Handbewegung entlässt er mich.
Ich trete wieder in den Korridor. Lange noch lausche ich an der Tür, wie er mithilfe seiner Magnete und Beschwörungen die Blockaden der Frau Stück für Stück zum Schmelzen bringt.
15.5.12
Ich betrete den Korridor zwischen den Staudengewächsen und Zierbäumen. In unserem Freigelände können sich Pflanzenliebhaber fast jeden Wunsch erfüllen. Von Seerosen bis zu Rabattenstauden präsentiert sich ihnen unser Angebot wuchsfreudig, blühend und ganz in Saft und Kraft stehend. Die Pflege des umfangreichen Bestands ist für uns Mitarbeiter im Gartenmarkt eine ziemliche Herkulesaufgabe. Trotzdem habe ich während meines Praktikums immer wieder Zeit gefunden, staunend zu beobachten, wie die Pflanzen ihre Käufer finden.
Die Kunden streifen umher und begutachten unser Angebot, und dann irgendwann macht es Klick, und eine der Pflanzen hat ein neues Heim und einen neuen Besitzer gefunden. Ob es irgendetwas Chemisches ist, Pheromone vielleicht, oder ob es eine Form von Magie ist, habe ich noch nicht herausfinden können. Zwar glauben die Heimgärtner und Laubenpieper, sie wären es, die hier die Wahl treffen, aber in Wahrheit haben sie keinerlei Kontrolle über ihren Einkauf und stehen ganz im Bann der Blumen, Stauden und Ziergehölze, die sich ihnen aufdrängen. Wobei diese durchaus wählerisch sind. Und, ja, es gibt auch Kunden, die absolut unempfänglich sind für die Signale der Botanik und einfach einpacken, was auf ihrem Einkaufszettel steht. Doch die sind selten.
Ein fetter Mann, der seine Resthaare auf die Glatze gekämmt hat, schiebt seinen Einkaufswagen zwischen den Paletten durch. Er lässt seinen Blick schweifen und rollt gemächlich am Blauglockenbaum vorbei. Im Wagen hat er einen Zimmerspringbrunnen mit Drachenbaum und Zwergpfeffer. Ich als Pflanze würde mich jetzt klein und unscheinbar machen und ihn vorbeifahren lassen – wer ein weißes T-Shirt anzieht, das sich über den Bauch spannt und zahlreiche Flecken zweifelhafter Herkunft aufweist, wird auch seine Pflanzen nicht richtig pflegen.
Er hält an und nimmt den Blauglockenbaum in Augenschein. Ich beobachte ihn zwischen den Ästen der Harlekinweide hindurch. Was will er mit unserer Paulownia? Sie sieht ein wenig kümmerlich aus, ein paar der Blätter sind bräunlich verfärbt, als leide sie unter Pilzbefall. Niemand interessiert sich für sie. Schon seit Monaten steht sie unbeachtet auf der Palette neben dem Goldliguster: ein echter Ladenhüter. Aber der Dicke packt sie doch tatsächlich in seinen Wagen. Ich eile sofort hin.
»Kennen Sie sich mit der Pflege einer Paulownia aus? Sie ist sehr kapriziös.« Das soll ihn abschrecken. Doch der Kerl brummt nur und schiebt seinen Wagen weiter. Ich folge ihm.
»Oh, sehen Sie nur. Sie ist krank. Warten Sie, ich checke mal in unserem Bestand, ob ich nicht ein anderes Exemplar für Sie habe.« Wir haben keines, das muss ich nicht erst checken, aber ich kann ihm bestimmt einen Trompetenbaum unterjubeln, die werden oft mit der Blauglocke verwechselt. Doch der fette Glatzkopf schüttelt unwirsch den Kopf und reißt mir den Plastiktopf wieder aus den Händen, setzt ihn neben seinem Zimmerspringbrunnen, wirft Paulownia einen verliebten Blick zu und lässt mich einfach stehen.
»Entschuldigen Sie«, rufe ich ihm hinterher, »dieser Zierbaum ist bereits verkauft.« »Er gehört mir!«, will ich anfügen, doch ich sehe, dass die Tochter des Chefs auf mich aufmerksam geworden ist. Sie steht mit dem Wasserschlauch an den Silberweiden.
Der Übergewichtige dreht sich zu mir um. Ich habe nur Augen für meine Paulownia. Sie schüttelt ihre Blätter und reckt sich zu ihrer ganzen Größe auf. Sie will mich verlassen. Sie will sich diesem Dicken in seinem schmierigen T-Shirt an den Hals werfen, will die Seine werden und alles in den Dreck treten, was sich so behutsam zwischen uns beiden entwickelt hatte!
Die Tochter des Chefs tritt zu dem Dickwanst: »Es ist alles in Ordnung mit dem Bäumchen.« Dann dreht sie sich zu mir um. Sie hatte schon immer einen Kieker auf mich: »Ich glaube, unsere Orchideen müssen mal wieder ein wenig eingenebelt werden.« Doch ich habe bereits die große Gartenschere in der Hand. Von diesem Fettsack lass ich mir meine Paulownia nicht wegnehmen!
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