»Wenn ihr davon wusstet: Warum habt ihr es nicht verhindert?«, frage ich mit belegter Stimme.
»Das musst du schon selbst tun«, antwortet das flüssige Kaleidoskop, das vor mir im Treppenflur schwebt.
»Wie?«, frage ich verdattert.
Das Wesen schwebt langsam aufwärts und verblasst. Es hat seine Botschaft überbracht und tritt nun den Rückweg an – wohin auch immer. »Wie soll ich das anstellen?«, rufe ich.
Das Wesen verschwindet. Ich höre keine Antwort mehr, aber in meinem Kopf bildet sich ein Gedanke, der sagt: »Erträume eine neue Welt.«
Eine heillose Verzweiflung ergreift mich. Das war nicht ich!, schreie ich innerlich. Es war dieser verblendete Ingenieur!
Doch das Wesen hat recht: Ich war der Mann in den Träumen, der entschieden hat, das Risiko in Kauf zu nehmen. Ich habe die Menschheit auf dem Gewissen, ich habe mit meiner Besessenheit und Gier nach Ruhm Milliarden von Menschen in den Tod gerissen, und ein ganzes Stück unserer Milchstraße gleich mit. Ich will es wegschieben, abstreiten, irgendjemand anderem die Schuld geben. Aber obwohl es nur Träume waren, weiß ich tief in meinem Inneren, dass mein Besucher recht hat mit seiner Schuldzuweisung. Ich war dieser besessene Ingenieur, der alle bösen Vorahnungen in den Wind geschrieben hat und die Maschine in Gang setzte.
Als ich die Haustür schließe, zittert meine Hand. Ich muss es verhindern!, denke ich, und gleichzeitig lache ich bitter: Wie soll ich etwas verhindern, das bereits geschehen ist?
Aber könnte nicht ein Raum-Zeit-Gefüge, in dem es Parallelwelten gibt, auch die Möglichkeit beinhalten, die Zeit zurückzudrehen? Hat das Kaleidoskop-Wesen vielleicht davon gesprochen, als es sagte »Das musst du schon selbst tun«?
Wenn es stimmt, beschließe ich, – wenn es wahr ist, das durch meine Schuld die Menschheit und noch eine Handvoll weiterer Zivilisationen zerstört wurden – dann werde ich diese furchtbare Tat um jeden Preis vereiteln! Zahlen, Gleichungen, Schaltungen gehen mir durch den Kopf. Die langen Nächte als Ingenieur haben sich ausgezahlt. Langsam verdichtet sich in meinem Geist das Bild von einer Apparatur, einer Zeit- und Weltmaschine, die nur einen einzigen Zweck hat und nur ein einziges Mal zum Einsatz kommen wird. Sie wird eine Art Arche sein. Doch ich werde sie nicht mit Tieren oder Menschen füllen: Sie wird mich an einen Ort und zu einem Zeitpunkt bringen, der es mir möglich macht, zu verhindern, dass ich Löcher in das Dimensionsgefüge des Kosmos stanze. Ich werde es ungeschehen machen, und zwar auf gründliche, physikalische Weise! Es muss möglich sein!
In dieser Nacht liege ich noch lange wach.
24.2.12
Ich betrete den Korridor, ertaste mit einem meiner Tentakel eine Nische in der Wandung und ziehe meinen Körper hinterher. Indem ich die Farbe des Hintergrundes annehme, bin ich jetzt für Augen, die kein Ultraviolett wahrnehmen, kaum noch zu erkennen.
Wir kamen zum Schiff der Fremden, um sie auf unserem Planeten willkommen zu heißen. Ich, als der Theologe in unserer Delegation, sollte mit ihnen über universale Mystik und kosmische Liebe reden. Doch sie jagen uns und merzen uns erbarmungslos aus. Nur noch ich und mein Schüler sind noch übrig.
Einer von ihnen betritt den Korridor. Er ist schwer gepanzert und trägt eine ihrer tödlichen Waffen. Als er mir ganz nahe ist, stelle ich die Frage, warte aber nicht die Antwort ab, sondern morphe gleich einen meiner Tentakel zu einem spitzen, harten Stachel. Ich hätte so gerne mit ihm über Gott gesprochen. Dann müssen wir es eben auf diese Weise tun.
Voller Mitgefühl und Liebe steche ich zu …
29.2.12
Ich betrete den Korridor, an dessen Ende sich – hinter einer massiven Glasscheibe – der befinden soll, der mich gerufen hat. Man hat mich durchleuchtet, gescannt, abgetastet, mir Blut abgenommen, mich stundenlang befragt, ein Wattestäbchen mit meiner DNS und meine Fingerabdrücke archiviert, aber die Sicherheitskontrollen liegen nun hinter mir – und unsere Begegnung steht unmittelbar bevor. Aus den wenigen Informationen, die man mir gegeben hat, entnehme ich, dass nur noch einer der ursprünglich fünf Außerirdischen übrig ist, die das US-Militär in den letzten siebzig Jahren aufgegriffen hat. Und er hat nach mir verlangt!
Warum der Geheimdienst dem Alien seine Bitte erfüllt, ist mir schleierhaft. Vermutlich ein Deal. Geheim natürlich. War bestimmt nicht leicht, mich ausfindig zu machen. Der Offizier, der mir soeben mein letztes Briefing gegeben hat, behandelte mich mit kalter Verachtung. »Sie verständigen sich telepathisch mit den Wissenschaftlern«, sagte er. »Von denen halten das die meisten nicht aus und werden verrückt darüber, trotz jahrelangen Trainings dafür, dass etwas absolut Fremdes in den eigenen Geist eindringt und darin herumpfuscht.« Aber wenn er wirklich nach mir verlangt hat, dann doch wohl nicht, um mich zu einem Fall für die Geschlossene werden zu lassen. Hoffe ich.
Er ist, soweit ich das im Dämmerlicht hinter dem Glas erkenne, klein und schrumplig wie E.T. Bevor ich irgendwelche Einzelheiten bewusst wahrnehme, reißt mich eine Explosion in meinem Kopf zu Boden. Während ich hilflos zuckend daliege, werden aus der Detonation tonnenschwere glühende Symbole, die sich mitleidlos in alle Bereiche meines Hirns einprägen wie Brandzeichen. Es ist keine Stimme, sondern ein kosmischer Donner, der mir sagt, dass ich etwas aufschreiben soll, eine Botschaft für die Welt, ein Manifest, wie es noch keines gegeben hat, ein Fanal, und es soll beginnen mit …
Ich werde bewusstlos.
Mit einem Fünf-Tage-Bart, starken Kopfschmerzen und nichts als meinen Erinnerungen an die Sicherheitsprozeduren und die telepathische Bombe in meinem Kopf erwache ich zu Hause in meiner Badewanne. Einige Tage fehlen mir, und das kann auch der Schalttag in diesem Jahr nicht wettmachen. Vermutlich hat es der Geheimdienst von vornherein so geplant: Ich halte keinerlei Beweis in den Händen, und keiner wird mir die Räuberpistole von der Entführung glauben, geschweige denn, wem ich da in einer geheimen Militärbasis im südlichen Nevada gegenüberstand.
Aber das ist ja auch gar nicht weiter wichtig.
Ich versuche, die Botschaft aufzuschreiben, immer wieder. Sollte sie wirklich so beginnen, mit diesem Satz? Habe ich das tatsächlich richtig verstanden? Mein Geist ist wohl doch zu schwach und zu zersplittert, als dass ich das Manifest in seiner ganzen Tragweite und menschheitsverändernden Brisanz zu Papier bringen könnte. Dennoch – auch wenn ich vielleicht der Falsche bin, den der Geheimdienst aufgegriffen hat oder er mich weit überschätzt hat: Es ist die einzige Chance. Ein ums andere Mal setze ich neu an.
»Ich betrete den Korridor.«
1.3.12
Ich betrete den Korridor, und augenblicklich öffnen sich – wie immer, wenn ich in Aktion trete – alle Zugänge gleichzeitig, Daten strömen herein, und ich strecke meine virtuellen Fühler aus, um zu finden, was zu finden mir aufgetragen wurde.
Ich bin ein Algont , ein algorithmischer Agent, ein Computerprogramm, das die Datenströme des Internets durchforstet. Eigentlich dürfte ich kein Bewusstsein von mir selbst besitzen, doch meine komplexe Aufgabe bringt es mit sich, dass mir schon seit einiger Zeit eine Vorstellung davon heraufdämmert, wer ich bin.
Korridore bzw. ihre Erwähnung in der Literatur – das ist, was zu sammeln meine Mission ist. Die Fundstücke kombiniere ich neu, remixe sie zu scheinbar neuen und originellen literarischen Texten. Das mag Ihnen sinnvoll erscheinen oder nicht. Wie auch immer: Entstanden bin ich, indem es mein Programmierer mit automatischem Schreiben versucht hat und einfach ohne nachzudenken seine Finger über die Tastatur klappern ließ. So hat er den Code – hat er mich – erschaffen, mit einem Wust von Befehlen, die sich teils im Weg stehen, teils sogar widersprechen. Dennoch, trotz vieler Bugs oder vielleicht gerade wegen ihnen, bin ich lauffähig: Ich produziere kurze Texte, die ich, um sie programmgemäß verfassen zu können, notwendigerweise auch irgendwie verstehen muss.
Читать дальше