Für die Kinderphantasie lag in den alten Heften eine andere Welt verborgen. Wenn der Regen an die Scheiben schlug oder die Sonne in die Stube schien, stiegen Geister daraus empor, lächelten oder drohten.
Wenn das Gewitter die Wolken über die Häuser jagte und seine Blitze über die Stadt schleuderte, wenn der Donner rollte und der Hagel auf das Straßenpflaster prasselte und hüpfte, führten die Gestalten und Szenen der Kalender die kleine Marta und ihre Geschwister in seelische Höhen oder Tiefen.
Da drang ein Aufschrei aus den kleinen Mündern oder die Augen strahlten vor Freude.
Den größten Eindruck machte aber die Bibel auf die Kinder. Von den ersten Kapiteln war Marta überwältigt, denn sie schienen ihr sehr glaubwürdig. Ein Zeitgefühl für die sieben Tage der Erschaffung der Welt hatte sie noch nicht entwickelt. Schaudernd hörte sie zu und las es später ihren Kindern aus der Bibel so vor:
„Und die Erde war wüst und leer - bis das Licht sich schied von der Finsternis und das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste.“
Gottesfürchtig und gläubig erläuterte sie die Zeichen, die Zeiten, Tage und Jahre. Sie erzählte ihrer zweitgeborenen Tochter Alma, unserer Mutter, von Sonne, Mond und Sternen, vom Werden und Vergehen:
„Und wenn das Wasser, die Luft und die Erde sich erregten mit webenden und lebendigen Tieren und
wenn die Erde Gras und Kraut und Bäume wachsen ließ, dann blies Gott dem Adam den Atem ein und er
schuf das Weib aus der Rippe des Mannes.“
Und die Mutter wiederum zitierte uns Kindern die
Sprüche aus der Bibel, die auch vier Jahrzehnte später nichts von ihrer Kraft eingebüßt hatten.
Sobald nun unsere kindliche Großmutter Marta nicht mehr die Hände in den Mund steckte, wurde sie von der Mutter Mathilde und der Tante Dorothea mit dem Prinzip Arbeit bekannt gemacht. Sie lernte früh mit Leim und Nadel, bunten Zeugstücken, Knöpfen und Garn umzugehen. Die kleine Beschäftigung, bei der sie der Mutter zur Hand ging, verschaffte der Familie einen Nebenverdienst. Er lag im Herstellen von Bauern und Bäuerinnen, Herren und Damen, Tieren, Schäfern und Schäferinnen und anderen lustigen Dingen verschiedener gesellschaftlicher Stände aus Stoff, Pappmache´ und Holz. Großmutter ging bald die Freude an diesem Spielzeug verloren, das je nach Größe, Preis und Fingerfertigkeit auch ihren Teil beigesteuert bekam.
Zu ihrer Freude kam sie in die Schule. Ihr Schulweg war eine gerade, endlose, aber enge Straße; zu beiden Seiten standen Häuser zwischen zahlreichen Bäumen. Sie sah Bauern, Kutschen und große Wagen, die auf dem Kopfsteinpflaster einen ohrenbetäubenden Lärm machten.
Als sie ein weiteres Stück gegangen war, sah sie rechts und links zwei andere Straßen, die geradeaus liefen, soweit das Auge reichte, am Ende durchschnitten vom Horizont. Sie betrachtete aufmerksam die Namen der Straßen und formte mit den Lippen die Buchstaben. Konnte sie schon lesen?
Hier endete Alma mit ihrer Geschichte von Tante Dorothea und der Kindheit ihrer Mutter Marta.
Es gab einen Zeitsprung über den ersten Weltkrieg hinweg, und sie erzählte uns von ihrer eigenen Kindheit auf dem Hof ihrer Eltern Marta und Johann.
Als sie fünf Jahre alt war, bekam sie schon kleine Arbeiten zugeteilt. Sie hatte feste Aufgaben für jeden Tag und musste das Geschirr abtrocknen, die Zimmer ausfegen, Staub wischen, Holz hereintragen und im Garten Unkraut zupfen. Manchmal drückte sie sich einfach vor der Hausarbeit. Mit sechs Jahren schulten die Eltern sie in einer einklassigen Landschule ein. Es waren dort alle Kinder in einem Raum zusammen, von den Sechsjährigen bis zu den Vierzehnjährigen. Die kleinen Bänke waren nicht passend für die Großen und so bewegten sie sich viel, weil sie vom Sitzen ganz steif wurden. Der Lehrer hat sich meist darüber aufgeregt und schlug sie mit dem Rohrstock, der aus Schilfrohr bestand, auf die Hände oder auf den Rücken. Diese Ungerechtigkeit zehrte an der kleinen Alma, denn sie war zwar als Kind die Klassenbeste und saß in der ersten Reihe, war aber auch zart und mitfühlend. Während die Eltern auf dem Feld waren, hatte sie täglich am Nachmittag die Küche zu putzen und den Herd zu scheuern. Wenn Einmachzeit war, gab es Erbsen und Bohnen zu pulen, Kirschen und Pflaumen zu entkernen oder Johannisbeeren zu pflücken.
Aber die Schularbeiten sollte sie möglichst vor dem Dunkelwerden fertig haben.
Sonntags gingen die Eltern mit ihr in die Kirche. Dort lernte sie Gottvertrauen, das ihr in so mancher schwierigen Situation half. Sie wurde auf die Konfirmation vorbereitet. Die Tante schenkte ihr schwarzen Stoff für das Konfirmationskleid. Eine Schneiderin aus dem Nachbardorf erhielt den Auftrag, es zu nähen. Gern hätte sie Samt gehabt, aber es blieb ein billiger Stoff. Der Pfarrer gestaltete das Konfirmationsfest feierlich und überreichte ihr einen Spruch aus der Bibel. Es war der Psalm 23,4:
„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“
Nach der Schulentlassung hätte sie gern in der Bank eine Lehre begonnen. Das Schulgeld konnte von ihren Eltern, die noch vier weitere Kinder hatten, nicht aufgebracht werden und so blieb es ein Traum. Vater hatte kein Einsehen: „Du gehst in Stellung beim Pastor, da lernst du kochen, putzen und Handarbeiten, alles, was eine Frau und Mutter braucht.“
Also ging sie in dem größeren Nachbarort zu einer evangelischen Pfarrersfamilie in Stellung. Dort unternahm sie Botengänge, lernte kochen, waschen, das Geschirr spülen, Handarbeiten und den Garten zu versorgen.
Trotz der umfangreichen Arbeit gehörte ihre Dienstmädchenzeit, wie sie uns später berichtete, zur schönsten Zeit ihrer Jugend. Beim Pfarrer Brummak und seiner Frau brauchte Alma sich nicht zu fürchten, Abenteuer bestehen zu müssen, bei denen ein junges Mädchen Schaden an Körper und Seele nehmen konnte. Sie hatte auch Zeit, eine stattliche Anzahl Bücher zu lesen und für ihr Musikverständnis war die Nähe zur Kirche eine gute Hilfe. Der Pfarrer war etwa so alt wie ihr Vater und das Ehepaar hatte einen fünfjährigen Sohn. Alma machte die Arbeit Freude und die Frau Pfarrer war nett zu ihr. Am Anfang bekam sie fünf Mark im Monat. Später wurde ihr Lohn auf zehn Mark erhöht, weil sie so fleißig und ehrlich war.
Sie arbeitete in ihrem Heimatort bei den Eltern in der Landwirtschaft mit, soviel sie konnte. Ihre Schwester Käthe und die drei Brüder Otto, Paul und Ernst waren natürlich die Haupthilfen der Eltern. Alma hatte gelernt, zu organisieren, konnte gut rechnen und schreiben und war rundum geschickt bei der Hausarbeit. Oft ging sie in die Kirche. Der Pfarrer hielt sehr schöne Predigten über die Familie und die Aufgabe der Mütter, was sie immer tief berührte. Aber Heimweh hatte sie oft, wenn es ihr auch nicht schlecht ging in den zwei Jahren. Zu Weihnachten durfte sie nach Hause fahren. Alle freuten sich sehr über das Wiedersehen. Im November gab es regelmäßig ein Schlachtfest auf dem Hof, so hatten alle genug zu essen.
Alma mit 17 Jahren
Bevor sie mit meinem Vater ging, war sie mit einem jungen Mann befreundet, den sie beim Tanzvergnügen kennenlernte.
Ihr Cousin Alfred begleitete seine hübsche Verwandte zum Tanz, da es für ein Mädchen nicht schicklich war, allein auszugehen. Man tanzte den schnellen Krakowiak, einen Paartanz, der aus der Region um Krakau stammte. Auch die Mazurka, einen damals populären polnischen Tanz, der viele Variationen hatte, konnte sie perfekt tanzen. So parierte sie das Aufschlagen der Füße am Boden bei gleichzeitigem Zusammenschlagen der Absätze, als sie noch schlank und jung war.
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