In Gedanken saß sie noch bei den Eltern, von denen ihr der Abschied besonders schwergefallen war. Sie dachte an die Familie und an ihre Vermählung.
Die Hochzeit hatte vor Ostern in der evangelischen Kirche Neutomischel stattgefunden. Die in Kreuzform errichtete und mit doppelten hölzernen Emporen ausgestattete Kirche konnte mehr als 1000 Besucher aufnehmen. Als sie im Jahr 1780 eingeweiht wurde, gab es die Ortschaft noch gar nicht.
In der Kirchenchronik wurde berichtet, dass sich um die neuerbaute Kirche herum an Sonn- und Feiertagen durch das Zusammenströmen vieler Menschen ein lebhafter Verkehr entwickelte und so die Stadt entstand:
Wilhelm und Marie hatten sich auf dem Weihnachtsball kennengelernt. Sie war in der Kreisstadt bei einer Beamtenfamilie in Stellung und hatte Hauswirtschaft gelernt, er ist seinen Eltern schon einige Jahre als Bauer auf dem großen Hof im Nachbardorf zur Hand gegangen. Ihnen blieb nicht viel Zeit, denn der Wochentag war ausgefüllt mit Landarbeit. So blieb nur der Sonnabend in der Stadt, wenn die jungen Leute ausgingen und sich in Gruppen versammelten, um gemeinsam mit dem Fuhrwerk auszufahren. Dann machten sie sich fein, wuschen sich den Staub aus den Haaren und waren wie die Kinder, fröhlich und kurze Zeit unbeschwert.
Schnell stand fest, die beiden wollten ihr Leben miteinander teilen. Die Hochzeit wurde beschlossen und ein Ort gesucht, wo beide gemeinsam Arbeit hatten. „Weit und breit gab es dafür nur einen Ort, das Gut Brody.“
Hier hatte Großvater seinen Vortrag für diesen Tag unterbrochen, nahm nachdenklich seinen Tabak, griff die alte Mütze und verschwand für eine lange Zeit im Garten. Erst auf unsere neugierigen Fragen nach dem Schloss nahm er den Faden wieder auf:
Schloss Brody
„In der Provinz Posen hatte die Herrschaft auf dem Gut Brody um 1900 ihre Blüte erreicht. Einen großen Teil seines Landes baute der Besitzer Freiherr von Pflug mit Hopfen an und hatte guten Erfolg damit. Der Roggen konnte auf dem Moorboden gut gedeihen, während die Gerste und der Hafer oft der Fritfliege zum Opfer fielen, die feuchte Lebensräume bevorzugte und ihre Eier besonders in die Herzen des langhalmigen Getreides legte. Auch die Zwergzikaden, diese winzigen punktäugigen Insekten, die mit Hilfe ihrer Hinterbeine gut springen können, zogen mit ihren stechend-saugenden Mundwerkzeugen an ihren Wirtspflanzen wichtige Aufbaustoffe heraus. Letztendlich kamen die Zuckerrüben in die Fabriken, wenn sie durch ihr schnelles Wachstum den Engerlingen oder Drahtwürmern entgangen waren. Es gab wenig Weideland in diesem Landstrich, deshalb arbeitete der Betrieb nutzviehlos. Dieser Boden war einer der nährstoffreichsten in der ganzen Provinz Posen. Dazu gab es Wald mit Kiefern und Birken, der jährlich abgeholzt und mit einer neuen Hopfenanlage versehen einen doppelten Ertrag brachte. Einige Hundert Bäume säumten die Straßen, Gärten und Alleen ringsum und trugen mit ihren Früchten zum Wohl der Menschen bei.
Die Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen dienten zum Verkauf in den Städten Pinne und Neustadt. Von Wichtigkeit waren die großen Höfe, weil sie das Zentrum der großen Wirtschaft darstellten. Das Zugvieh und die Feldfrüchte mussten in Gebäuden untergebracht werden, um bei dem wechselnden Klima keinen Schaden zu nehmen. So hatte der Hof in Brody mit dem 1892 erbauten Schloss und der evangelischen Kirche die Ausmaße eines gewaltigen Rechtecks.
Außer der Scheune, einem Hof mit Brennerei, Stallungen für Dutzende Arbeitspferde, aber auch eine Handvoll Luxuspferde sowie Mastschweine gab es auch einen Hühnerstall und den Taubenschlag für den Aufenthalt des nötigen Geflügels.
Der Hopfenanbau brachte dem Gut viel Geld ein. Durch das Vermischen von Wasser, Gerstenmalz und Hopfen und dem durch Hefe ausgelösten Gärprozess, in dessen Verlauf mehr oder weniger Alkohol frei wurde, entstand das Bier, das den Menschen des Gutes als Nahrungsmittel und dem Herrn als Ware diente. Es gab dafür schon seit dem vorigen Jahrhundert sowohl Bierverordnungen als auch eine Preisbindung beim Verkauf in der Stadt.
Der Speicherraum für einige Tausend Zentner Getreide lässt erahnen, wie viel Arbeiter nötig waren, um diesen Betrieb aufrecht zu erhalten.
So hatte der Gutsbesitzer Paul von Pflug auch außerhalb des Hofes entlang der Landstraße in östlicher Richtung zehn Arbeitshäuser zur Aufnahme von Arbeiterfamilien sowie eine Unterkunft für einige Dutzend Sommerarbeiter bauen lassen.“
Es war kein Wunder, wenn der Großvater so von seinem Schloss schwärmte, denn dieser riesige landwirtschaftliche Betrieb suchte Seinesgleichen. Schließlich konnte er mit seiner Marie in eines dieser Häuser ziehen.
Seine blauen Augen leuchteten und er zwirbelte den Schnurrbart, während er träumend wieder zum jungen Mann wurde.
Als sich das Fuhrwerk an diesem Tag dem Gutshof näherte, stoppte Wilhelm die Pferde, machte die Leine am Wagen fest und näherte sich zu Fuß dem großen eisernen Tor, während Marie auf die Tiere achtgab. Er war dabei, eine lange besprochene Entscheidung in die Tat umzusetzen. An der Einfahrt von der Landstraße in den Hof befanden sich das Rentamt und große Wohnungen für das höhere Aufsichtspersonal. Er stolperte vor Aufregung über die Schienen, die vom Bahnhof direkt in den Hof verliefen, und über die sämtliche Handelsgüter transportiert wurden.
In dem kleinen Wachhäuschen saß ein untersetzter Mann mittleren Alters und maß ihn mit strengem Blick. „Was wünschen Sie?“, fragte er mit knarrender Stimme. „Ja, guten Tach auch, wissen Sie, meine Frau da draußen auf dem Fuhrwerk und ich sind die neuen Arbeiter. Wir kommen aus Neustadt.
Seit Ostern sind wir angemeldet. Wir wollen bleiben, also für immer, wenn es sich einrichten ließe bei der Herrschaft. Könnten Sie nich so freundlich sein, Herr Amtmann und uns sagen, wo wir nu hin sollen? Wir sind gerade angekommen, die Landstraße immer runter müssen Sie wissen“, teilte ihm Wilhelm in einer langen Rede eifrig von seinen Strapazen mit und drehte vor Verlegenheit seine Mütze in den Händen. Der Vogt des Gutes las in seinen Papieren, fand die richtigen Unterlagen und kam mit seinem gesattelten Pferd bis zur Ausfahrt, wo er Marie höflich zunickte. Dann wies er mit ausgestrecktem Arm nach links um eine kleine Kurve:
„Da herum geht es, noch einen Kilometer. Das dritte Haus. Die Huben Numero 3“, beschrieb er knapp. „Folgen Sie mir bitte hier entlang.“ Er ritt voran, während der Leiterwagen mit dem Hab und Gut der beiden Jungvermählten hinterher zuckelte.
So zogen Wilhelm und Marie in die Huben Numero 3 ein.
Die Huben oder Hufen bedeuteten ein Stück eigene Fläche, das ausreichend Acker- und Weide beinhaltete, um eine Familie ernähren zu können. Natürlich konnten sie es nur in ihrer Freizeit bearbeiten. Ihr zugewiesenes Land lag gleich hinter dem Haus.
Sie nahmen außerdem in dem massiven Haus eine große Stube, zwei kleinere Kammern und einen darüber liegenden Bodenraum in Besitz.
Auf dem Hof stand ein Stall zur Aufnahme von Schweinen, Federvieh, Holz und sonstigen Vorräten. Ihre beiden Pferde nahm man als Arbeitspferde im Gutsstall auf. Sie selbst waren Gutsarbeiter geworden.
Wilhelm wurde unentbehrlich als Pferdeknecht und Kutscher, während Marie sich im Sommer an den Hack- und Erntearbeiten betätigte. Im Winter lernte sie, mit der Schrotmühle das Getreide zu mahlen und die Masttiere und Milchkühe mit Wasser, Rüben, Heu und Schlempe zu versorgen, dem alkoholfreien Rückstand bei der Branntweinherstellung, der ein sehr gutes Futtermittel war. So ging das erste Jahr zur Neige, als sich Marie im warmen Monat August plötzlich vor dem morgendlichen Kamillentee und Wilhelms abendlichem Bier ekelte und Heißhunger auf Heringe hatte, die sie sonst gar nicht mochte. In ihrer ersten Schwangerschaft brachte sie im Februar 1908 in ihrem Haus auf den Huben 3 in Schanzfeld, polnisch Niewiercz, einen gesunden Jungen zur Welt.
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