Ihre braunen, aus feinem Leder geflochtenen Tanzschuhe mit den zwei Knöpfen holte sie aus dem großen Kleiderschrank, wenn sie mir davon erzählte. Sie waren in einem der Fluchtkoffer von ihrer Heimat mitgekommen. Mutter war kräftiger geworden nach vier Kindern und der vielen Feldarbeit, verbraucht vom Leben. Die Schuhe hatte sie als Erinnerung an eine vergangene Zeit unten in ihrem Schrank ihr Leben lang aufbewahrt. Alma träumte in ihrer Küche weit weg von ihrer Heimat von Jan Kiepura und Mario Lanza, den zwei Tenören, die in ihrem Alter um die vierzig waren und deren Erfolge bis Amerika reichten. Was war ihr geblieben nach diesem schrecklichen Krieg? Sie arbeitete zuverlässig jeden Tag, bis sie krank wurde und ihr hageres Gesicht mit den breiten Wangenknochen, die wie kleine Äpfel gerötet waren, noch eingefallener wurde. Ihre schmalen Lippen sahen grau aus, wenn sie traurig war, und sie wirkte spitz und sehr verletzlich.
Nach der langen Tagesarbeit strickte sie und besserte unsere Kleidung aus, obwohl sie morgens um fünf aufstehen musste. Die brüllenden Kühe brauchten ihr Futter und mussten gemolken werden, weil die Milch im Euter drückte. Es war immer dasselbe, Sommer und Winter, Ostern, Weihnachten und Pfingsten. Mutter hatte ein schwaches Herz. Ihre Beine waren geschwollen, sie litt unter Bluthochdruck und Atemnot.
Manchmal summte sie oder sang Lieder aus der Heimat. Oft kannte sie alle Strophen auswendig. Ihr Lieblingslied war „Am Brunnen vor dem Tore“, ein deutsches Lied, das Franz Schubert vertonte:
Am Brunnen vor dem Tore
Da steht ein Lindenbaum:
Ich träumt’ in seinem Schatten so manchen süßen Traum. Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort;
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort.
Ich musst’ auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten,
Als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir, Geselle,
Hier findest Du Deine Ruh!
Die kalten Winde bliesen
Mir grad in’s Angesicht;
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht.
Nun bin ich manche Stunde entfernt von jenem Ort,
Und immer hör ich’s rauschen:
Du fändest Ruhe dort.
Mutters Augen füllten sich mit Tränen. Sie dachte an ihre Mutter, die in Polen auf dem kleinen Friedhof neben der Kirche begraben lag.
Einmal hat sie mir auf mein Drängen von ihren Gefühlen erzählt, aber meist versuchte sie, stark zu sein und keine Regung zu zeigen.
Plagten die Mutter ihre Krampfadern im Sommer zu sehr, umwickelte sie ihre Beine von den Füßen bis zum Knie mit grau-weißen Binden. Vater trug auch Beinbinden, weil er durch Granatsplitter versehrte Beine hatte und die Wunden ihm zusetzten. An den Füßen trug er Fußlappen und seine Beine steckten in Holzpantoffeln. Bei der Mutter machten sich die Unregelmäßigkeiten der Wickel-Maßnahmen so bemerkbar, dass ihr am rechten Bein unterhalb der Knies eine dicke Krampfader herausquoll, die Beine waren hügelig und glichen grünen und blauen Flusslandschaften. Sie wurden nicht geschont. Abends war das abgesackte Blut aus den Lymphen über den Knöcheln zu sehen und zeichnete sich in einer Beule bis zum Einschlupf der Holzpantoffeln ab.
Obwohl Mutter nur die Achtklassen-Volksschule in ihrem kleinen polnischen Dorf besucht hatte, konnte sie gut lesen und hatte eine schöne Schrift, wenn sie die lateinischen Buchstaben schrieb. Es zeigte ihren Fleiß und Ordnungssinn, denn sie hatte nur die deutschen Buchstaben in der Schule gelernt.
Sie erzählte mir von Charles Dickens, sagte Gedichte auf von Goethe oder Schiller.
Ihre zahlreichen Bücher hatte sie verloren, im Haus zurücklassen müssen. In ihrem Herzen trug sie viele Bilder aus Märchen wie Hänsel und Gretel oder Hans im Glück.
In der Weihnachtszeit saßen wir Kinder um den Kachelofen, die Mutter strickte Handschuhe oder Socken und erzählte uns diese Märchen aus ihrer Kindheit und die Geschichte von Tante Dorothea, die in der Kindheit ihrer Mutter eine besondere Rolle spielte.
Für die selbstgestrickten Socken mit einem Nadelspiel von fünf Nadeln hatte sie eine spezielle Methode von ihrer Mutter, wie die Ferse zu arbeiten sei. In mir wuchs der Wunsch, vielleicht auch zu stricken, aber ganz bestimmt, Märchen und Geschichten selbst zu lesen.
An Winterabenden bekamen wir öfter Besuch von Nachbarn, mit denen die Eltern befreundet waren.
Sie saßen beisammen, plauderten und erzählten Gespenstergeschichten wie die von dem Kinderschreck der deutschen Sage, der durch das Korn zog:
Die Roggenmuhme
Lass stehn die Blume!
Geh nicht ins Korn!
Die Roggenmuhme
steht da vorn!
Wen sie beim Pflücken
sieht Halme knicken,
wer Ähren zertritt,
den nimmt sie mit!
Manchmal traute ich mich vor Angst in der Dunkelheit nicht, den Lichtschein und die Gesellschaft zu verlassen, um ins Bett zu gehen.
Weil diese Dorfbewohner alle in ihrem Leben vor dem Krieg auf ihren Höfen um Poznań gelebt hatten, sprachen sie fließend polnisch. Hier in dem preußischen Dorf sprachen die Leute plattdeutsch.
„ In de Wochen ferr Wiehnachten is dat Familjenläewen janz besundersch intensiv. In keene annere Tied van't Joahr is dat Meteenaner van'ne Familje, ob jung odder olt, sau enge wie in dese Doa. Et sin besonnere Oarbeed'n, de Junge un Olle, Ellern un Kingere meteenanner vereenen, Oarbeed'n dea hinfiehrn up Wienachten.“
Und es bedeutet: „In den Wochen vor Weihnachten ist das Familienleben ganz besonders intensiv. In keiner anderen Zeit des Jahres ist das Miteinander von der Familie, ob jung oder alt, so eng wie in diesen Tagen. Es sind besondere Arbeiten, die Junge und Alte, Eltern und Kinder miteinander vereinen, Arbeiten die hinführen auf Weihnachten.“
Anfangs hatte meine Flüchtlingsfamilie schon an dieser Barriere mit offenen Augen und Ohren zu rütteln. Später, als sie die Hiesigen-Sprache besser verstanden, wurden sie wegen ihrer Wortwahl belächelt. Opa fragte mich:
„Mächen, kunst nich a bissel langsamer, mir ist des Rheuma in die Beene gekumm.“
Mutter meinte:
„Nu lasse man flitzen, die kleene Kräte, wir wern schun allene die Zwickelkerne setzen.“
Großvater trug ein Bruchband, ein Ungetüm mit einer Stahlfeder darin und einem Polster am Ende, welches seinen Leistenbruch zurückhalten sollte. Er hatte sich dieses Leiden schon in jungen Jahren zugezogen, als er gleich zu Beginn des ersten Weltkrieges zur Infanterie eingezogen wurde.
Er war bekleidet mit einer feldgrauen Uniform, die Hose zierten rote Biesen an den Seitennähten, dazu einer einreihig geknöpften Jacke, auf seinem Kopf eine Art Pickelhaube sowie an den Füßen die Knobelbecher, feste Stiefel, deren Absätze beschlagen waren und auf dem Pflaster beim Marschieren widerhallten. Weil die Infanterie als Basis der Streitkräfte, ausgerüstet mit Handwaffen und Maschinengewehren, in vorderster Front kämpfte, wurde Großvater Wilhelm nach wenigen Kriegswochen durch einen Streifschuss verwundet. Er kam nach Hause und musste auch nach seiner Genesung nicht wieder zum Militär einrücken.
Eines Tages bat ich die Mutter, mir ihren Trauring zu zeigen, und sie zerrte ihn mühsam vom Finger, wo er eine tiefe Rille hinterließ. Ich betrachtete den Ring eingehend, entzifferte auf der Innenseite den Stempel mit dem Goldgehalt und den Buchstaben „A und P 1940“. Dasselbe stand auf dem Ring, den Mutter in dem roten Samtkästchen im Vertiko aufbewahrte und der dem Vater schon lange nicht mehr passte. Hatte ich da ein Geheimnis entdeckt? „Ja sakra! Du verflixte Kräte! Du hast es rausgekriegt. Keiner nich hats bemerkt. Die Jungs möchten amende gar nicht so weit rechnen kenn wie du kleenes Balg.“ Sie fiel wieder in ihre deutsch-polnisch-gemischte Sprache und schimpfte, weil ich das Mysterium ihrer Liebe entschlüsselt hatte. Mein ältester Bruder war schon Anfang 1941 geboren, also dauerte die Zeit von der Eheschließung im Spätherbst bis zur Geburt nur wenige Wochen. Liebe gab es also auch früher, heimlich, mit Verstoß gegen die guten Sitten und ohne Trauschein.
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