3.Die wundersame Tante Dorothea
Meine Mutter Alma erzählte uns aus ihrer Jugendzeit um 1920 Geschichten voller Gottesfurcht und in tiefem Glauben.
An ihre klare Stimme erinnere ich mich deutlich:
„Wenn auch der liebe Gott so manche Person in einer berühmten Stadt geboren werden lässt, wurde mir dieses Glück nicht zuteil. Besonders glänzende Städte waren Warschau oder Posen, doch ich wurde in Chiby geboren.“
Meine Großmutter Marta sollte in dieses kleine Dorf geraten, das hinter den Gärten ein unwegsames Sumpfgelände hatte. Es war in der Nähe von ihrem späteren Ehemann Johann, meinem kaisertreuen Großvater mit dem schönen, gezwirbelten Schnurrbart. Großmutter lernte als Kind lesen und schreiben, was für ein Mädchen vor 1900 nicht selbstverständlich war. Sie weinte leicht und gern, oft wischte sie sich mit dem Taschentuch über die Augen. Ihre Kinderzeit verbrachte sie mit ihren zwei Geschwistern in dem kleinen Haus, das ihrem Vater mit einer Stube nach der kleinen Gasse als Werkstatt diente. Er war Schuster, hatte sein Handwerkszeug für einen namhaften Preis erstanden und achtete sehr auf jedes Stück.
Martas Mutter Mathilde, meine Urgroßmutter, saß auf ihrem gewohnten Platz neben dem niedrigen Schustertisch, und am Abend konnte sie beim Licht der Petroleumlampe stricken, nähen oder das große Gesangbuch durchbuchstabieren.
Die Kinder schliefen in einer Schlafkammer, deren Fenster nach dem Hofe hinaussahen. Manche Nacht lag Martas Mutter wohl im Bett neben dem Vater und machte kein Auge zu. Sie machte sich große Sorgen, wie sie die Familie ernähren sollte.
Zur gleichen Zeit lag auch Marta in ihrem Bett wach und dachte an die großen Butterbrötchen und Semmeln der Nachbarskinder.
Urgroßvater Gustav tat, was er konnte, aber das Handwerk hatte für ihn nicht den Segen, den ein Kinderfreund erwarten möchte.
Seine Kunden vertrauten ihm lieber ein Paar kranke Stiefel zum Kurieren an, als dass sie ein neues Paar bei ihm bestellten. Er hielt selbst den Kopf mit Mühe über Wasser.
Eine entfernte Anverwandte namens Dorothea war praktischer, und auf ihren Rat hin wurde seine Frau Mathilde eine Wäscherin. Sie stand des Morgens zwischen zwei und drei auf und kam am Abend um halb acht todmüde und wie zerschlagen nach Hause. Sie stillte den Hunger der Kinder auf Nahrung und versuchte, ihre Träume in die Wirklichkeit umzusetzen.
Marta behielt Zeit ihres Lebens dunkle, unbestimmte, wunderliche Erinnerungen und hat davon ihrer Tochter Alma erzählt, die es wiederum ihrer halbwüchsigen Tochter Lieselotte einige Jahrzehnte später an einem kalten Winterabend in ihrer neuen Heimat so erzählte:
Von frühester Jugend an hatte Marta einen leichten Schlaf, und so erwachte sie öfter von dem Lichtschein eines Schwefelhölzchens, mit welchem ihre Mutter in dunkler, kalter Winternacht ihre Lampe anzündete, um sich zu ihrem frühen Wege zu rüsten. Die Geschwister lagen warm in ihren Betten und rührten sich nicht. Marta beobachtete aus halbgeschlossenen Lidern ihre Mutter, die brennende Lampe und die Schatten an der Wand. Merkwürdigerweise stammten diese frühen Erinnerungen fast alle aus der Zeit des Winters. Um die Flamme war ein Dunstkreis, der Atem fuhr in einer Wolke gegen das Licht. Die gefrorenen Fensterscheiben flimmerten. Es war bitterkalt und in das Behagen des warmen Bettes mischte sich für die Beobachterin das Grauen der bitteren Kälte, vor welchem sie ihre Nase unter die Decke ziehen musste. Begreifen konnte sie nicht, warum die Mutter so früh aufstand. Es war so dunkel und kalt und die schwarzen Schatten gingen vorüber, nickten, beugten sich und richteten sich auf. Noch unbestimmtere Vorstellungen hatte sie von den Orten, wohin die Mutter ging.
Je nach ihrer Stimmung stellte sie sich diese Orte mehr oder weniger angenehm vor.
Sie vermischte Einzelheiten aus den Märchen Frau Holle, Hänsel und Gretel und Rotkäppchen mit allerlei Bruchstücken aus den Gesprächen der erwachsenen Leute, denen sie gelauscht hatte.
In diesen Augenblicken zwischen Schlaf und Wachen färbten und mischten sie sich bunt. Endlich war die Mutter mit dem Ankleiden fertig und beugte sich über die Kinder, um sich still zu verabschieden. Fand sie die kleine Marta wach vor, gab es einen Kuss, allerlei gute Ermahnungen und lockende Versprechungen, damit sie nicht losheule und schnell wieder einschlafe.
Die Versicherung, dass der helle Morgen und damit die Tante Dorothea bald kommen würden, beruhigte sie für das erste. Die Lampe wurde ausgeblasen, die Kammer versank in Dunkelheit.
Marta hörte nur das leise Atmen der beiden Geschwister.
Dann knarrte die Tür und die Schritte der Mutter entfernten sich. Schnell war der Schlaf wieder da und wenn sie abermals erwachte, saß die Tante Dorothea schon vor den Betten der Kinder und in der Stube nebenan prasselte das Feuer im Ofen. Des Vaters weitläufige Verwandte war nicht älter als die Mutter, aber sie hieß seit ihrer Kindheit Frau Unterberg. Niemand in der Umgebung kannte sie unter anderem Namen und sie war bekannt wie der Alte Fritz oder der Kaiser Napoleon.
Früher war sie ebenfalls Wäscherin gewesen, aber sie war nun längst ausrangiert und ernährte sich kümmerlich durch Strumpfstricken, Spinnen oder Nähen.
Vom Posener Magistrat bekam sie ein kärgliches Armengeld und der Vater Gustav hatte der sehr entfernten Verwandten das Stübchen, das sie in seinem Hause bewohnte, aus Mildtätigkeit eingeräumt.
Nun hatte sie eine seltene Gabe, die kaum jemand besaß. Für Dorothea waren Gestorbene nicht von der Erde genommen, sondern schritten durch die Gassen und begegneten ihr auf dem Markt, wie man ansonsten Lebendige sieht und unvermutet auf sie stößt. Für die entfernte Cousine waren damit keine Unheimlichkeiten verbunden, denn sie sprach davon wie von etwas Gewöhnlichem.
So begegnete ihr der Apotheker, welcher jetzt die Apotheke besaß und keine Notiz von seinem verstorbenen Großvater nahm, der ihn besuchte. Schließlich erregte diese Gabe die Bekannten nicht mehr und Ungläubige hörten auf, darüber zu lächeln. Die Gläubigen, deren Zahl größer war, schlugen nicht mehr die Hände über dem Kopf zusammen. Frau Dorothea selbst nahm ihre seltsame Sehergabe wie eine Gnade Gottes an und blieb bescheiden.
Marta sah sie als gebückt gehende Frau, deren Kopf weit vorgeneigt war. Die Kleider hingen an ihr, denn sie war sehr dünn. Ihre lange Nase machte einen unangenehmen Eindruck, aber ihre blauen Augen waren noch Jahre später nicht vergessen.
Das Mädchen hatte Respekt vor ihrer Gelehrtheit und verdankte ihr den Einstieg in die Wissenschaften.
Den Gebrüdern Grimm hätte Tante Dorothea noch Märchen erzählen können, und wenn die böse Königin der gehassten Stieftochter Schmerzen bereitete, fühlte Marta diese am eigenen Körper. Auch die beiden kleineren Geschwister hörten gespannt den Erzählungen zu, waren aber noch weitaus unkritischere Zuhörer mit ihren drei und vier Jahren. In den ersten Lebensjahren der drei Geschwister vertrat sie die Mutterstelle. Ohne ihren Rat und Beistand geschah nicht viel. Sie stillte manchen Hunger, doch der Vater Gustav brummte oft, es könne auf Dauer nichts Gutes dabei herauskommen, denn die Phantasien und Gespenstereinbildungen seien Teufelszeug und könnten dem Menschen nicht helfen. Darauf zuckte sie nur mit den Achseln und Marta kroch noch dichter an sie heran. Brummend, wie er gekommen war, zog der Vater wieder ab in die Werkstatt.
Marta lernte das Lesen bei der Tante, die ihre Sache gut machte und nur über lange ausländische Wörter stolperte. Mit Pathos las sie den drei Kindern vor und näselte dabei, um noch größeren Eindruck zu machen. Ihre Bibliothek bestand in der Hauptsache aus Bibel, Gesangbuch und einigen Volkskalendern, deren jeder ein Almanach mit einer schauerlichen Geschichte und guten Hausmitteln war sowie lustige Anekdoten enthielt.
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