Wieso bin ich so ruhig?
Die Tür geht auf. »Frau Brink?«
Die Hüfte schmerzt, als ich aufstehe und die wenigen Schritte hinüber zu meinem Arzt ins Sprechzimmer gehe. Ich setze mich vor seinem Schreibtisch auf den eleganten schwarzen Ledersessel und starre auf die Papiertaschentücher. Sie liegen zwischen dem Kalender und dem silbergerahmten Familienfoto auf der Schreibtischplatte. Wie immer.
Wir kennen uns schon lange. Seit Jahren behandelt er die Nervenschmerzen in meinen Schultern, die sich organisch eigentlich nicht erklären lassen. »Sie sollten sich einfach nicht so viel aufladen«, rügt er mich ständig, und ich weiß, dass er damit meine psychische Last meint. Er ist der Einzige, der über alles Bescheid weiß. Bis auf Elvira natürlich. Aber die ist im Augenblick weit weg.
Er schiebt meine Karteikarte und seinen Stift zur Seite, lehnt sich in seinem Sessel zurück und lächelt mich an. Signalisiert Aufmerksamkeit, erwartet die aktuelle Geschichte von mir. Auch wie immer.
»Ich hab‘ in den letzten Wochen furchtbare Schlafprobleme«, beginne ich zaghaft. »Hab‘ schon alles versucht. Gelesen vor dem Schlafengehen, warm gebadet, Baldriantropfen geschluckt, Melissentee getrunken. Bin abends noch mit dem Hund spazieren gegangen, um mich zu beruhigen. Aber es hilft alles nichts. Ich kann einfach nicht einschlafen. Das macht mich fertig! Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt! Ich muss endlich mal wieder tief schlafen. Ich brauche ein Schlafmittel. Eines, das besser und länger wirkt, als das frei verkäufliche Zeug aus der Apotheke.«
Er sieht mich eine Weile wortlos an, und ich fühle mich dabei wie mit Röntgenaugen durchleuchtet. »Sind Sie sicher, dass Ihnen das helfen wird?«, fragt er dann, beugt sich wieder vor, stützt die Arme auf den Schreibtisch und sieht mir prüfend in die Augen. »Müssen Sie da nicht an grundsätzliche Dinge heran?«
»Ach Gott, ja«, sage ich und weiche seinem Blick verunsichert aus.
»Als Außenstehender kann man immer leicht reden ...«
»Vielleicht weil man als Außenstehender objektiver ist«, bemerkt er lakonisch, und ich überlege fieberhaft, wie ich ihn davon überzeugen kann, dass mir in dieser akuten Situation keine Zeit bleibt für den langwierigen Prozess grundlegender Veränderungen. »Ich sehe doch, wie Sie unter Ihrer Situation leiden. So können Sie nicht bis in alle Ewigkeit weiter machen, ständig nur an den Symptomen kurieren und Pillen schlucken. Ihr Problem liegt ganz woanders. Sie brauchen keine Chemie, Sie müssten wirklich mal nach Alternativen schauen, ihren Mann dazu bringen, dass er endlich eine Familientherapie mit ihnen zusammen in Angriff nimmt. Ja, oder ihn konsequent vor die Wahl stellen ...«
»Ich weiß, ich weiß«, verlege ich mich aufs Weinerliche, die Taschentücher im Blick. »Aber dazu brauche ich Kraft. Dazu muss ich mal richtig schlafen können. Sie wissen, dass ich Angst habe, dass er mich bedroht. Er wird mich überall finden, wenn ich ihn verlasse, hat er gesagt ...«
Endlich gelingt es mir in Tränen auszubrechen, und ich angele nach der Packung mit den Papiertaschentüchern.
»Wir haben ja schon getrennte Schlafzimmer. Das bringt ein bisschen Distanz, und manchmal können wir sogar wieder miteinander reden. Es ist ja nicht so, als geschähe gar nichts. Das geht nur alles nicht so schnell. Helfen Sie mir. Bitte! Ich kann nicht mehr. Diese Schlaflosigkeit saugt mich aus, zieht mir die Energie ab. Wenn das so weiter geht, schaffe ich gar nichts mehr.«
Aus meinem gequälten Weinen wird hemmungsloses Schluchzen. Geräuschvoll putze ich mir die Nase. Ich versuche, meine Augen frei zu reiben. Die Wimperntusche muss mir das ganze Gesicht verschmieren. Doch was soll‘s. Kommt sicher gut.
»Ungern mache ich das. Sie arbeiten – wie gesagt – am Symptom. Eigentlich unterstütze ich das nicht gern.« Er senkt den Kopf, scheint ein paar Augenblicke nachzudenken, mit sich zu ringen. Dann greift er endlich nach seinem Rezeptblock und beginnt zu schreiben. Geschafft!
In der Apotheke nehme ich hastig die Packung an mich.
»Wo warst du?«, fragt er mich, als ich zu ihm in die Küche komme. Er sitzt gerade beim Frühstück, und ich bin froh, dass der Alkohol es noch immer nicht geschafft hat, seinen obligatorischen Morgenkaffee zu verdrängen. Ohne den Kaffee würde es nicht gehen.
»In der Stadt«, antworte ich und stelle meine Handtasche auf die Arbeitsplatte.
Nur der Hund freut sich, dass ich wieder da bin. Er springt japsend und hechelnd an mir hoch, ist kaum zu beruhigen, benimmt sich, als sei ich wochenlang nicht zu Hause gewesen.
Richard macht sich nicht die Mühe, mich anzuschauen. Er starrt in die auf dem Tisch ausgebreitete Zeitung, als sei sie der Nabel der Welt, das Einzige, was ihn im Augenblick interessiert.
Seine Kaffeetasse ist leer!
»Willst du noch einen?«, frage ich, während ich sie vom Tisch nehme und hinüber zur Anrichte trage.
Statt zu antworten fragt er mit den Augen im Sportteil: »Was hast du denn in der Stadt gemacht?«, und ich weiß, dass er in der Hauptsache wissen will, ob und wie viel Geld ich in meine eigenen Bedürfnisse investiert habe.
»Willst du noch einen Kaffee?«, frage ich wieder, greife nach der Kanne und drehe ihm den Rücken zu. Ich habe keine Lust, seine Frage zu beantworten oder ihn am Küchentisch Zeitung lesen zu sehen. Ich habe überhaupt keine Lust mehr, ihn zu sehen und mit ihm zu reden. Es stört mich heute kaum, dass er ignoriert, wie er mich zugerichtet hat. Wie jedes Mal tut er so, als sei nichts geschehen, als habe er es nicht nötig, sich zu entschuldigen. Dabei sind die Verletzungen in meinem Gesicht nicht zu übersehen.
Ich drehe das Radio etwas lauter, krame die Packung aus meiner Tasche, drücke ein paar Tabletten aus der Plastikfolie und lege sie vorsichtig neben die Kaffeetasse. Dann schütte ich Kaffee ein und lasse die Tabletten hineingleiten.
»Zucker und Milch?«
»Schlechtes Gewissen?«, fragt er zurück. »Heute mit Bedienung? Du weißt doch, wie ich meinen Kaffee trinke.«
Nach außen hin bleibe ich ruhig, gebe beides in die Tasse und rühre lange und geräuschvoll um. Impertinent, mich zu fragen, ob ich ein schlechtes Gewissen habe! Wieso vermutet er bei mir ein schlechtes Gewissen? Was geschehen wird, kann er noch nicht wissen, und nach allem, was schon geschehen ist, bin ja wohl nicht ich es, die ein schlechtes Gewissen haben sollte ...
Ich befürchte, dass die Tabletten noch nicht restlos aufgelöst sind, dass eventuell Krümel davon oben schwimmen werden. Habe so etwas ja noch nie gemacht. Lasse mich deshalb jetzt doch auf ein kurzes Gespräch mit ihm ein. Rühre dabei weiter in der Kaffeetasse herum.
»Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen«, sage ich leise. »Den Kindern gegenüber.«
»Du bist eben einfach keine gute Hausfrau«, brummt er in seine Zeitung.
In mir will etwas aufbrausen! Dieser anmaßende Ignorant! Doch ich zwinge mich zur Ruhe, will heute nicht wütend werden. Sehe ihn weiterhin nur an und rühre im Kaffee herum. Das Ausbleiben meiner Reaktion lässt ihn zu mir aufblicken. »Es hat sich schon mal jemand tot gerührt.«
Ein kurzer Kontrollblick auf den Kaffee. Nichts mehr zu sehen von den Tabletten. Zart lächelnd stelle ich die Tasse vor ihn hin. »Na, dann lass es Dir mal schmecken, mein Lieber«, sage ich und verschwinde aus der Küche.
In Richards Büro, das er seit Monaten kaum mehr betreten hat, suche ich nach den wichtigsten Papieren: Versicherungspolicen, Pässe, Urkunden, Verträge etc. In einer der Schreibtischschubladen finde ich eine schwarze Ledermappe, die ich zuvor nie gesehen habe. Sie ist mit einem Riegel verschlossen, und ich habe keine Zeit nach einem Schlüssel dafür zu suchen, gehe aber davon aus, dass die Mappe wichtige Papiere enthalten könnte. Zur Not werde ich später den Riegel zerschneiden müssen.
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