Seine metallene Zahnbrücke war in den Flammen gefunden worden, und das Mädchen hatte, wie sich beim Verhör der Zeugen herausstellte, einen Nagel im linken Schienbeinknochen besessen, der von einem komplizierten Bruch stammte.
Zur Feuerbestattung Margotts erschien außer Papst und einem schon in die Jahre gekommenen Mann mit dunklem, breitrandigem Hut, den niemand der Anwesenden kannte, nur ein älterer Bruder aus der DDR, was Papst sehr verwunderte, denn er erinnerte sich der zahllosen intimen Freunde Margotts auf den Feiern.
Die andere Seite war durch Mädchen aus dem Haus vertreten.
Margotts Bruder glich ihm bis auf das strohblonde, glatt zurück gekämmte Haar, die geröteten, wimpernlosen Augen, und seine Haut war so farblos wie die eines Albinos. Allerdings mochte er gut fünf Jahre älter sein, und diese Zeit schien ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen zu haben, denn ein missmutiger Ausdruck hatte scharfe Falten in seine Wangen gegraben.
Seine Bewegungen wirkten fahrig und unsicher. Papst fiel auf, dass er seinen Blick ständig zu Boden gesenkt hielt …
Er trug einen ungepflegten, an den Taschen und Umschlägen speckig wirkenden dunklen Anzug. Seine mageren Knie steckten in ausgebeulten Hosen ohne die Spur einer Bügelfalte, und seine Absätze waren so abgelaufen, dass ihre Hinterkanten mit den Sohlen fast in einer Ebene lagen.
Als Papst ihm zur Kondolenz die Hand drückte, hatte er das Gefühl, in einen trockenen Schwamm zu greifen.
Auf dem Kommissariat gab er zu Protokoll, sie seien gegen zehn Uhr abends angekommen, hätten zwei Gläschen mit den Mädchen im Salon getrunken, danach noch eine Flasche mit der Leiterin des Etablissements und seien dann sofort auf ihre Zimmer gegangen.
Margott habe keinerlei Andeutungen darüber gemacht, dass er sieh bedroht fühle. Wie immer sei er überschwänglicher Laune gewesen.
Wenn man nicht annehmen wolle, erklärte der Kommissar, das Mädchen habe mit einer vollen Benzinflasche unter dem Bett geschlafen, die umgefallen und zersprungen und durch eine unvorsichtige Handbewegung mit der Zigarette entzündet worden sei, dann lasse sich das Benzin nur so erklären, dass jemand ihr Bett damit übergossen hatte.
„Ein enttäuschter Freier – vielleicht ihr Zuhälter, der die beiden mit einem Revolver in Schach hielt, ehe er das Benzin anzündete und durchs Fenster entkam.“
Nach Auskunft seines Bruders sei Margott Handelsreisender gewesen. In welchen Artikeln, erwähnte er nicht. Ob er Feinde besessen habe, würde naturgemäß bei der Größe des Personenkreises nur schwer zu ermitteln sein.
„Halten Sie ein Verbrechen für möglich?“, erkundigte sich Papst zweifelnd (er war nahe daran, der „Benzinflasche unter dem Bett“ den Vorzug zu geben).
„Die Lösung dieser Frage ist unser Beruf.“
Während Papsts Verhör war ein zweiter Mann anwesend, der weder Fragen stellte noch ein Wort sprach.
Er saß nur auf seinem Stuhl an der Rückwand des Büros und notierte gelegentlich etwas in ein winziges ledernes Notizbuch. Papst hatte das Gefühl, dass seine kurzsichtigen Augen ihn durch die Brillengläser feindselig musterten. Da er beim Hereinkommen nach dem Haken für seinen Mantel gesucht hatte, ein auffälliges, tailliertes Kleidungsstück mit schwarzem Persianerkragen, hielt er ihn nicht für einen Mitarbeiter der Dienststelle.
Der andere schob ihm eine Zeitung hin. Obwohl er den Blick beim Lesen nicht hob, spürte Papst, dass beide ihn interessiert beobachteten. Unter der Schlagzeile „ Brand im Bordell “ stand ein großes Foto Margotts.
Es war ihm unerklärlich, von wem sie das Bild bekommen hatten, da sein Bruder gleich nach der Trauerfeier in die DDR zurückgekehrt war. Außerdem hatte er nicht so ausgesehen, als trage er großformatige Fotos seines Bruders mit sich herum.
Noch mehr überraschte Papst die Auskunft des Kommissars, dieser heruntergekommene Junggeselle sei der „ bedeutendste marxistische Theoretiker der Gegenwart“ , was ihn nicht daran hindere, das etwas verschrobene Leben eines Einsiedlers in einer Gartenlaube am Stadtrand von Leipzig zu führen.
Die Partei sehe ihm diesen Spleen nach, weil sie seine Verdienste schätze. Sie ehre ihn bei jeder Gelegenheit als einen der großen Söhne der Republik.
Er gelte als scharfsinniger Kritiker des Kapitalismus. Seine Arbeiten würden auch im Westen beachtet.
„Wissen Sie etwas über die Herkunft des Fotos?“
„Nein, wie sollte ich?“
„Und niemand trat deswegen an Sie heran?“
„Nein.“
„Margott wohnte im Düsseldorfer Akazien-Hotel. Glauben Sie, dass einer dieser windigen Reporter sich unerlaubt Zutritt zum Zimmer verschafft und das Foto aus seinem Gepäck entwendet haben könnte?“
„Ich wusste nichts von der Adresse und sehe mich außerstande, diese Frage …“
„Schon gut“, nickte er. „Es hat keine Bedeutung.“
Er stellte ein paar belanglose Fragen über seine Ausbildung an der Universität. Zum Schluss erkundigte er sich nach dem Mann mit dem breitrandigen Hut.
„Nie zuvor gesehen“, sagte Papst wahrheitsgetreu.
„Von wem wurde er über die Beerdigung unterrichtet?“
„Keine Ahnung.“
„Könnte es sich um einen Verwandten handeln?“
„Ich kannte Margott erst seit wenigen Wochen. Er pflegte nicht über private Verhältnisse zu reden.“
Als Papst wieder auf der Straße stand, hatte er das Bedürfnis, alles abzuschütteln wie ein Hund die Regentropfen in seinem Fell – einfach so …
Aber Margotts Tod war gewissermaßen nur das Ende in einer langen Kette „faulender Glieder“. Es bestärkte nur seinen Entschluss, endgültig mit dieser Seite der Welt Schluss zu machen. Der „innere Schweinehund“, nach Margotts Worten, war für eine Weile zu seinem Recht gekommen, doch er verspürte wenig Befriedigung darüber.
Nichts drängte ihn, dieses Leben fortzusetzen, selbst wenn er es gekonnt hätte.
Er ging in ein Café, setzte sich in die Nähe der Kasse und beobachtete das Treiben um sich her.
Das Land der klingelnden Kassen, dachte er und nippte ohne Appetit an einem Pfefferminzlikör.
Ein wenig beneidete er Margotts Bruder. Er war einfach in den Zug gestiegen. Sein Antrag auf Umsiedlung dagegen lag noch immer bei den Behörden, und nach der Ablehnung seiner Bewerbung an der Karl-Marx-Universität würde er sich weiter verzögern, falls man ihn nicht ganz ausschlug. Vielleicht hätte ich nichts vom „Papstschen System der Sprachidentifizierung“ erwähnen sollen. Es musste ihnen dubios erscheinen. Papst war bereit, jede Arbeit anzunehmen, die man ihm anbot. Angeblich gab es drüben keine Arbeitslosigkeit und ein gesetzlich verankertes Recht auf Arbeit.
Er war sich im Klaren darüber, dass viele Leute diesen Entschluss belächeln würden. Man würde es als die fixe Idee eines Enttäuschten abtun. Die geläufige Fluchtrichtung war umgekehrt. Das sprach gegen ihn. Selbst mit der Verständnislosigkeit der Einheimischen musste er rechnen.
Was ihn auf den Gedanken gebracht hatte, war weniger die Aussicht, irgendeine Arbeit zu finden – wenn er sich unter Wert verkaufte, würde es auch hier für einen Mann seiner Fähigkeiten kein unlösbares Problem sein –‚ als der Gedanke, auf etwas hoffen zu können.
Er wünschte sich mehr Solidarität. Solidarität und Hoffnung …
Dieser Staat war ein Land ohne Hoffnungen. Wenn er überhaupt auf etwas hoffte, dann darauf, sein Bruttosozialprodukt zu steigern. Eine Perspektive, die auf Dauer nicht befriedigen konnte. Auswanderer hatten zu allen Zeiten ferne Eilande und Kontinente betreten, um unter kläglichen Umständen, die weit unter dem alten Niveau lagen, ein neues Leben anzufangen, und was sie dazu getrieben hatte, war nach seiner Überzeugung weniger Abenteuerlust und pure Not gewesen als die Aussicht auf eine Perspektive und dass es Hoffnungen gab, die sich vielleicht eines Tages erfüllen würden.
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