„Das widerspricht den Grundsätzen unserer Gemeinschaft. Sie beruht auf Freiwilligkeit, niemand wird verfolgt, mit Zwang gehalten.“
Jörgensen schwieg. Gedanken wanderten durch seinen Kopf, Algorithmen, Licht, nicht Computer entschieden den Pfad, sondern der Mensch bestimmte seinen Algorithmus. Der Ozmo drückte ihm eine Broschüre in die Hand und flüsterte, während er verschwand: „Jetzt ist die Zeit des Schweigens.“
Benommen verließ Jörgensen den Raum und stieß ein wenig später auf Zuckowski, der ihm wütend entgegentrat. „Was ist das denn hier? Aus der Frau war nichts herauszubekommen. Ihre Tochter, für sie eine Fremde. Sie sagte nur, sie habe ihre Tochter mit sechs Jahren dem Ozmo übergeben.“
Jörgensen schaute ihn an und sagte: „Die haben ein anderes Lebenskonzept.“
Zuckowski schüttelte den Kopf: „Wollen Sie hier gleich eintreten? Sie haben ja einen Knall.“
Jörgensen war über diese heftige Reaktion geschockt und hielt Zuckowski für einen unsensiblen Klotz.
In diesem Moment läutete Zuckowskis Handy. Dieser hob das Handy an sein Ohr, stand plötzlich stramm wie ein Stock und sagte sich wiederholend, wie in einer Warteschleife: „Ja, Mama! Ja, Mama!....“ Er beendete das Gespräch mit: „Ja, ich komme pünktlich zum Essen, Mama.“
Auf der Rückfahrt schwiegen beide, bis Zuckowski doch noch etwas sagte: „Wir sollten die Becker offiziell vorladen, damit wir eine ordentliche Vernehmung durchführen können. Da stimmt irgendetwas nicht.“
„Der Ozmo hatte interessante Gedanken. Man muss sich dem doch nicht gleich verschließen.“
„Darum geht es nicht. Wir ermitteln. Die Staatsanwälte haben keine Ahnung von polizeilicher Ermittlungsarbeit und spielen sich dabei als Herren des Verfahrens auf. Die Polizei nur die Hilfstruppe. Ich hab‘ da Schwierigkeiten.“
Jörgensen schluckte.
„Was glauben Sie denn, bei der Staatsanwaltschaft wird hochqualifizierte Arbeit geleistet. Polizei und Staatsanwaltschaft sollen vertrauensvoll zusammenarbeiten, eine Behörde muss dabei den Hut aufhaben. Sehen Sie das nicht ein?“
Der vertrat seine Ansicht vehement weiter: „Es gab ja schon Versuche, dass die Staatsanwaltschaft reine Anklagebehörde wird. Die Polizei braucht keine Aufsicht. Wir haben das von der Pieke auf gelernt. Sie haben Ihre Gesetze, prüfen Ihre Akten und entscheiden, ob Sie anklagen. Wozu muss die Staatsanwaltschaft sich noch bei uns einmischen. Im Zweifel ermitteln wir wie die Dummen, und die Staatsanwaltschaft verpennt die Anklageerhebung und muss den Beschuldigten frei lassen. Unsere ganze Ermittlung, in den Wind geschissen.“
Zum Abschied bekam Jörgensen nur ein kurzes leises: „Bis morgen“, heraus.
Im Hotelzimmer fiel sein Blick auf die kleine Broschüre, die ihm der Ozmo zugesteckt hatte.
„Brüder und Schwestern des 11. Gebotes.“
Er öffnete das bunte in violetten Farben gehaltene Blättchen. Darin befanden sich die 5 Regeln der Gemeinschaft:
1 Liebe die Kinder!
2 Halte Ruhe!
3 Arbeite an Dir!
4 Sei frei!
5 Folge den Algorithmen Deines Lebens!
Das elfte Gebot, ihm ein unbekannter Codex.
4.
§ 211 II StGB
Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.
Er saß in seinem Wohnzimmer, blätterte hastig in der Zeitung. Er fand, was er suchte: „ Justiz tappt im Dunkeln “ Typisch Moabit. Er lehnte sich zurück und dachte, wenn er so seine Geschäfte führen würde, käme er zu nichts.
Im Berliner Sprachgebrauch nannte man das Kriminalgericht einfach Moabit, auch wenn mittlerweile Teile des Regierungsviertels dazu gehörten, Synonym der Berliner Strafjustiz. Der Ursprung des Namens umstritten, entweder biblischen Ursprungs, das Land der Moabiter, oder aus dem Slawischen, „Verfluchtes Land“.
Das Kriminalgericht ein ganzer Gebäudekomplex mit integrierter Untersuchungshaftanstalt, Gebäudeteile nach und nach angebaut, ein weiterer Eingang in der Wilsnacker Straße, das Kriminalgericht reichte für die Masse der Verfahren nicht mehr aus.
Bevor er am nächsten Morgen den Eingang in der Wilsnacker Straße durch den Neubau B betrat, dachte er, dass er endlich seine Wohnungssuche intensivieren müsste. Das Hotel war auf Dauer zu teuer und trostlos.
„Heute, nach Dienstschluss“, nahm er sich vor.
Erstaunlicherweise fand er an diesem Tag zum ersten Mal, ohne sich großartig zu verlaufen, den Weg zu „seinem“ Büro A 513. Der Übergang zum Altbau erschloss sich ihm zwar nicht gleich, aber, da er sich genau an der entgegengesetzten Ecke des Gebäudes befand, konnte er sich orientieren, ohne sich um die rätselhafte Nummerierung kümmern zu müssen. Man hatte ihm zwar schon mehrmals die Systematik der Raumanordnung erklärt. Verstanden, nein, trotz einer gewissen, aber absonderlichen Logik.
Zuckowski war nicht in seiner Dienststelle zu erreichen, auch nicht über Handy. Jörgensen wunderte sich, bat um Rückruf.
Er räumte seinen Schreibtisch auf, als ein Wachtmeister, ein etwas korpulenter Mann, Ende 50 und kurzem grauen Stoppelhaar, hereinkam und ihm ein paar Akten brachte. Der stellte sich als Eduard Lembke vor. „Ihr Start hier am Kriminalgericht war nicht so ganz einfach?", bemerkte dieser.
„Hinzu kommt, dass ich immer noch keine Wohnung habe, die Abläufe hier noch nicht kenne und die Mordsache am Hals habe", sprudelte es aus Jörgensen heraus, was er im nächsten Moment bereute. Lembke hörte nicht mehr auf von den alten Zeiten zu sprechen. Er war seit 30 Jahren am Kriminalgericht beschäftigt und hatte viel zu erzählen: „ Jetzt bin ich solange hier, aber glauben Sie mir, ich verlaufe mich immer noch. Na, und Ihr Oberstaatsanwalt ist ja auch nicht so ganz einfach.“ Er kannte Brühne seit dessen Referendarzeit.
„War der immer so?"
„Der hatte in seiner Zeit als Referendar ziemliche Schwierigkeiten, da er sich bei den Sitzungsvertretungen nie an die Absprachen hielt. Da gab es Ärger. Der Brühne ließ sich aber davon nicht beeindrucken und machte einfach so weiter. Der ist ein Kerl.“
Er war wieder allein und überlegte, ob er sich an Brühne wenden sollte, um…..
Im gleichen Moment rief der an und unterbrach Jörgensens Gedanken: „Kommen Sie umgehend in mein Büro“, schrie er hysterisch. „Umgehend!“ Jörgensen atmete kurz durch, schloss die Augen und ahnte nichts Gutes.
Mit Recht, musste er feststellen, als Brühne sofort auf ihn einredete, nachdem er dessen Dienstzimmer betreten hatte.
„Jörgensen, wir haben Schwierigkeiten.“
Brühne rannte mit hochrotem Kopf durch sein Dienstzimmer. Als Oberstaatsanwalt hatte er Anspruch auf ein Einzelzimmer. Als normaler kleiner Staatsanwalt, wie Jörgensen selbst, ein Dienstzimmer mit zwei oder mehr Kollegen. Ein Teil der Staatsanwaltschaft seit 12 Jahren in Baucontainern zwei Straßen weiter, im Sommer sollte das besonders unangenehm sein. Dieses Schicksal war Jörgensen erspart geblieben.
„Wir haben ein Problem und zwar ein internes Problem.“ Brühne wiederholte sich. Die Empörung und die Wärme des Raumes trieben Schweißtropfen auf seine Stirn.
„Bisher konnte man davon ausgehen, dass der Täter ein externer war, ein Prozessbeteiligter, ein Zuschauer oder irgendwer. Das Haus ist ja jeden Tag voll genug.“
Brühnes Stimme wurde immer höher, quietschte fast. Jörgensen hätte nie erwartet, dass dieser Mann so aus der Ruhe zu bringen war.
Читать дальше