Die letzten Stationen von Rehagen hier auf dem Kongress durchgehen
Wer hat hier mit ihm gesprochen?
Charlotte musste sich eingestehen, dass sie bei keinem der Punkte weit gekommen war. Und die anderen Punkte konnte sie ebenso gut zuhause herausfinden:
Wo und woran hat er gearbeitet (Lehrstuhl, Themen)?
Wer könnte etwas gegen ihn haben? Feinde
Charlotte beschloss, nach Hause zu fahren. Für einen Kongressbericht hatte sie nun ohnehin kein Material. ‚Da hat Richling jetzt halt Pech gehabt‘, dachte sie trotzig. Sie hängte sich ihre Tasche um und steuerte auf die Garderobe zu, um ihren Mantel zu holen und den Heimweg anzutreten.
Auf dem Weg zurück ins Präsidium wählte Jankovich noch im Auto die Telefonnummer seiner Freundin. Das Freizeichen ertönte über seine Sprechanlage. Nach ein paar Mal Tuten nahm Ruth ab. „Ja, hallo?“, fragte sie in angespanntem Tonfall. „Hi Ruth, ich bin’s.“ „Ach, hallo“, kam es unterkühlt zurück. „Ja. Hör zu, tut mir leid, dass ich dich alleine gelassen habe. Aber so wie es aussieht, haben wir wahrscheinlich wieder einen Mord. Ich fahr jetzt ins Präsidium. Aber ich komme später heim und wenn du Lust hast, essen wir einfach gemeinsam zu Abend. Ich lade dich natürlich ein – um das verpasste Frühstück wiedergutzumachen. Was hältst du davon?“ Schweigen in der Leitung. Dann erwiderte Ruth: „Ich weiß nicht Paul, nachher dauert’s wieder länger und dann versetzt du mich gleich zweimal an einem Tag. Ehrlich gesagt habe ich darauf keine Lust.“ Jankovich konnte sich nicht verkneifen, nachzuhaken: „Auf mich oder auf das Abendessen?“ Genervt erwiderte sie: „Darauf, von dir versetzt zu werden. Das weißt du auch genau. Also frag bitte nicht.“ Jankovich blinzelte irritiert, dann setzte er den Blinker und wechselte die Spur. „Bitte Ruth, ich versprech‘s dir. Ich bin gegen 18 Uhr zuhause und dann gehen wir schön gemütlich was essen. Ok?“ Mit deutlich hörbarem Widerwillen antwortete sie: „Ja, gut, ich warte hier. Ich wollte eh noch ein Firmenkonzept an meinem PC ausarbeiten.“ Erleichtert verabschiedete sich Jankovich. Allerdings fragte er sich nur Sekunden später, warum dieses Gespräch so verlaufen war. Er hatte Ruth in den letzten Wochen zwar einige Male versetzen müssen, aber er hatte von Anfang an die Karten auf den Tisch gelegt: Als Kommissar konnte er sich nicht immer an die üblichen Bürozeiten halten, das hatte er Ruth klar gesagt. Und sie hatte bislang immer Verständnis gezeigt. Außerdem war sie als Unternehmensberaterin selbst ständig unterwegs und hatte auswärtige Termine. Doch Ruth schien sich zunehmend weniger damit abzufinden, dass Jankovichs Beruf ihn so sehr forderte. ‚Ob sie langsam ihre Toleranzgrenze erreicht hat?‘, fragte sich Jankovich und bemerkte, dass sich Frust in ihm ausbreitete. Er beschloss, nicht während der Autofahrt darüber nachzudenken. Jankovich konzentrierte sich lieber auf den Verkehr, bis er das Präsidium erreichte. Als er auf dem Parkplatz ausrollte, fiel ihm Charlotte Bienert wieder ein. Unwillkürlich verzog er die Lippen zu einem schiefen Lächeln. Unglaublich, dass sie schon wieder eine Leiche gefunden hatte. ‚Naja, nicht gefunden‘, korrigierte er sich. Er stieg aus und steuerte auf den Eingang des Präsidiums zu. Er würde sich nun erstmal dem Hintergrundcheck über das Leben und Arbeiten des Toten widmen. Bis um 18 Uhr hatte Ruth sich bestimmt beruhigt und sie würden trotz des verpatzten Morgens ein schönes Abendessen genießen. Das zumindest redete Jankovich sich ein.
Als Charlotte in der U-Bahn saß und ihre Wohnung ansteuerte, zog sie ihr Handy hervor. Sie sah auf dem Display, dass Max dreimal versucht hatte, sie zu erreichen. ‚Oh Gott, den hab ich ja völlig vergessen‘, dachte Charlotte mit schlechtem Gewissen und wählte sofort die Nummer ihres besten Freundes. Nach dem zweiten Klingeln war Max dran. Offenbar hatte er nur darauf gewartet, dass sie zurückrief. „Ja hi, meine Süße“, schallte es fröhlich aus dem Hörer. Charlotte musste lächeln. „Aha, wie ich sehe bist du wieder bei Himmelhoch jauchzend angekommen?“ Max schnaubte empört. „Pff, als ob ich davor zu Tode betrübt gewesen wäre“, erwiderte er. „Najaaa...“, sagte Charlotte gedehnt. „Jaja, geschenkt“, fiel ihr Max ins Wort. „Also, mein lieber Freund hat sich bei mir entschuldigt. Hat gesagt, es tue ihm entsetzlich leid, dass er mich so eiskalt abserviert hat. Und dass er es total bereut und auf jeden Fall weiter mit mir zusammenbleiben möchte. Ich sag dir Charlotte, dieser Mann treibt mich noch in den Wahnsinn“, sagte Max in verräterisch schwärmenden Tonfall. „Ja, ich kann es mir vorstellen“, antwortete Charlotte trocken. „Also hast du ihn angerufen?“ Max sagte: „Ja, hab ich. Du hattest mal wieder recht. Wie immer“, schleimte er. „Ach komm, hör auf“, sagte Charlotte. Max verstummte einen Augenblick, dann wurde sein Ton ernst. „Sag mal Charlotte, was ist passiert? Ich höre doch, dass was nicht stimmt.“ Charlotte schnaubte. ‚Verdammt, er kennt mich einfach zu gut‘, dachte sie. Dann sagte sie so leise wie möglich, um die anderen Fahrgäste nicht an ihrem Gespräch teilhaben zu lassen: „Also ob du’s glaubst oder nicht, ich habe... Kommissar Jankovich wieder getroffen.“ Entsetzt kreischte Max in den Hörer: „Du hast schon wieder eine Leiche gefunden?“
Als Charlotte 15 Minuten später ihre Wohnungstür aufschloss, hatte sie Max immer noch in der Leitung. „Nein, wirklich, du brauchst nicht vorbeizukommen. Ich... muss jetzt eh was recherchieren und dabei kannst du mir nicht helfen.“ Angespannt fragte Max: „Du willst dich doch nicht ernsthaft schon wieder in die Ermittlungen einmischen, Charlotte? Ne ehrlich, ich hab keinen Bock mir in ein paar Tagen wieder anzuhören, dass dich schon wieder fast ein Mörder erwischt hätte. Oder eine Mörderin“, setzte er patzig hinterher. Charlotte klemmte das Handy zwischen ihr Ohr und die Schulter, während sie sich die Hände wusch. Anschließend lief sie in ihr Zimmer, um ihren Arbeitsrechner hochzufahren. Dabei versuchte sie, Max vom Thema abzulenken. „Komm, lass es gut sein. Hilf mir lieber, ‘ne Wohnung zu finden. Sanne und Christoph schauen sich nämlich grade ihr mögliches neues Zuhause an.“ Charlottes Rechner war inzwischen hochgefahren. Während Max missmutig einige Wohnungsanzeigen laut vorlas, die er nebenher im Internet ansah, rief Charlotte ihr Arbeits-Outlook via VPN-Verbindung auf. Sie wollte Richling eine E-Mail schreiben. Da ihr Chef seine Nachrichten auch am Wochenende abrief, wollte Charlotte ihm gleich schildern, was passiert war. Und ihm auch sagen, dass er sich den Kongressbericht abschminken konnte. Doch bevor sie eine neue Nachricht aufsetzen konnte, zeigte ihr Posteingang eine eingegangene neue Nachricht an. ‚Merkwürdig, ohne Absender‘, dachte Charlotte.
Als sie die Mail öffnete, riss sie die Augen auf. „Max, ich muss auflegen, ich erklär’s dir später“, würgte sie ihren Freund unvermittelt ab und legte auf. Sie las sich die Nachricht durch. Dann noch ein zweites Mal, nur um sicher zu gehen. Charlotte sah, dass in der Mail ein Anhang mitgeschickt worden war. Zwei Fotos. Obwohl sie sich davor fürchtete, betätigte sie mit zitternden Fingern die Maus. Als sich die Bilder öffneten, hatte Charlotte für einen Augenblick das Gefühl, ihr Herz würde stehen bleiben. Doch dann begann es umso heftiger zu schlagen. Ohne zu überlegen, warum sie es tat, wählte sie Jankovichs Nummer. Jankovich hob sofort ab: „Frau Bienert, wenn ich sagen würde ‚Das ist ja eine Überraschung‘, wäre das gelogen. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt? Sie sollen sich raushalten und sich nicht in Gefahr bringen“, sagte Jankovich streng. Charlotte sagte mit zitternder Stimme: „Ich fürchte, dafür ist es zu spät.“ Eine Sekunde blieb es ruhig in der Leitung, dann fragte Jankovich alarmiert: „Was ist passiert?“ Charlotte schluckte. „Ich... ich habe eine Drohnachricht bekommen. Mit... Fotos von mir im Anhang. Von heute, als ich beim Kongress war.“ Sie machte eine kurze Pause, dann holte sie Luft und sagte: „Die Bilder hat jemand von mir gemacht, als ich auf der Toilette war.“ Wieder blieb es einen Augenblick still, dann fragte Jankovich: „Wo sind Sie jetzt?“ „Bei mir zuhause“, antwortete Charlotte. „Gut, Sie bleiben dort, wo Sie sind. Ich komme vorbei. Ich meine es ernst, bleiben Sie, wo Sie sind.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, legte Jankovich auf.
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