Früher hat sie sich meistens Zeit für mich genommen und mit ihrem Übersetzen Pause gemacht, wenn ich das mal wollte, und hat mit mir gespielt und mir vorgelesen.
Was soll’s, ich will das eh nicht mehr. So was ist nur für Kleine. Und außerdem, ich hab ja Papa. Wenn der nur noch um Anne-Marie rumhüpfen würde wie Mama und nichts mehr mit mir unternehmen würde, das wäre viel schlimmer. Die letzten Monate, als Papa schon hier gearbeitet hat und wir noch zu Hause gewohnt haben und er nur am Wochenende heimkam, fand ich ziemlich beschissen. Weil er da nur am Samstag Zeit gehabt hat, mal mit mir Fußball zu spielen. Und überhaupt.
Das Brüllen kommt näher. Mama macht endlich die Tür auf, mit dem Ellbogen, denn sie hält Marie im Arm. Ich glaube jedenfalls, dass es Marie ist, so ganz sicher bin ich mir nicht, die beiden sind sich schrecklich ähnlich.
„Bin ich froh, dass du heimkommst“, stöhnt Mama, „du musst mir Anne-Marie abnehmen, Jens, nur für eine Stunde, ja? Wenn du sie im Wagen spazieren fährst, schlafen sie bestimmt bald ein, und ich muss doch morgen die Übersetzung abliefern und bin noch lang nicht fertig und finde meine Akten nicht, weil ich immer noch keine Zeit hatte, meine eigenen Kisten auszupacken. Da, halt mal Marie!“ Damit drückt sie mir meine kleine Schwester in die Hände.
„Ich hab aber keine Zeit“, erkläre ich und setze Marie am Fußboden ab.
„Es wird doch nicht zu viel verlangt sein, wenn ich ein Mal eine einzige Stunde deiner kostbaren Zeit beanspruche!“, schnauzt Mama mich an, hebt Marie wieder vom Boden auf und stopft sie in den Kinderwagen. „Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht, und du bist dir zu gut, mir ein bisschen zu helfen! Du fährst jetzt Anne-Marie spazieren und drehst den Sonnenschirm so, dass sie immer im Schatten sitzen, und bist nicht vor halb fünf zurück, hast du das verstanden?!“
Wenn Mama so gereizt ist, hält man besser den Mund. Sie kann ganz schön ausflippen.
Daheim hat sie nie von mir verlangt, die Zwillinge spazieren zu fahren. Daheim waren Oma und Opa, die sich darum gerissen haben, die beiden von oben bis unten abzuknutschen, und Karin, Mamas Freundin, die immer mal eingesprungen ist, wenn Mama einen Abgabetermin für ihre Übersetzungen hatte, und die behauptet hat, sie passe gern auf Anne-Marie auf.
Mama hat inzwischen auch Anne im Kinderwagen verstaut, schiebt den Wagen zur Haustür raus, mich hinterher und knallt hinter mir die Tür zu. Hat die eine Laune!
Anne und Marie veranstalten einen Wettbewerb, wer lauter brüllen kann. Ich schiebe den Kinderwagen den Berg hinter dem Schwimmbad hinauf. Endlich haben sie sich müde gebrüllt, nuckeln an ihren Daumen und sitzen so friedlich da, als wären sie nicht die reinsten Nervensägen. Ich stell die Lehne tiefer. Wenn sie halb liegen, schlafen sie eher ein. Hoffe ich.
Das hätte mir früher jemand sagen sollen, dass ich einmal Babys spazieren fahre! Zum Glück sehen mich Peter und Alex nicht. Und erst recht nicht dieser Scheiß-Bastian mit seiner Clique. Sonst würden die wieder „Mädchen“ zu mir sagen oder „Weichei“ oder sogar ...
Wenn ich bloß daran denke!
Dabei habe ich mich früher mal mit Bastian ganz gut verstanden. Anfangs habe ich sogar auch zu seiner Clique gehört und es hat mir nichts ausgemacht, dass er der Boss war. Einer muss eben der Boss sein, das war schon okay. Bis er das mit den Mutproben eingeführt hat. Klauen im Supermarkt und solchen kriminellen Schwachsinn – so was mach ich doch nicht mit! Und als ich ihm das gesagt habe, hat er geantwortet: „Hast wohl Schiss, was? Musst erst Mami fragen?“
Dabei war es das gar nicht. Oder höchstens ein bisschen – wegen Papa. Weil der mir gerade kurz vorher wegen einer gewissen anderen kriminellen Sache mächtig eingeheizt hatte und ich nicht unbedingt Lust hatte, das ein zweites Mal auszuprobieren.
Ich habe Bastian bloß geantwortet. „Quatsch! Ich finde es einfach Scheiße.“ Und da hat er das gesagt, das von der „homosexuellen Missgeburt“. Und alle haben es gehört. Und gegrinst.
Ich könnte ihn heute noch umbringen. Aber ich habe einfach nichts gesagt und bin gegangen. Seither habe ich nichts mehr zu melden bei denen.
Na ja, muss ich jetzt ja sowieso nicht mehr.
Aber solche gibt’s hier bestimmt auch. Nur solche wie Peter und Alex nicht, die damals zu mir gesagt haben: „Mach dir nichts draus! Die haben doch nicht mehr alle! Und außerdem sind nämlich wir deine Freunde.“
Die Sonne brennt auf den Weg. Vom Schwimmbad herüber dringen Kreischen und Quietschen. Ich schau hin und sehe, dass sie die Riesenrutsche wieder eröffnet haben.
Ich habe noch meine Badehose unter den Shorts an und meine Dauerkarte in der Hosentasche. Und Anne und Marie schlafen bestimmt gleich ein ...
Ich renne bergab zum Freibad. Die beiden werden im Wagen nur so gerüttelt. Als ich am Schalter ankomme und meine Karte zeige, schlafen sie. „Sind die süß!“, sagt die Frau an der Kasse. Hat die eine Ahnung!
Ich schiebe den Kinderwagen bis in die Nähe der Riesenrutsche, ziehe meine Jeans und mein T-Shirt aus und renne zur Leiter. Die Schlange ist ziemlich lang. Als ich oben auf der Plattform bin, schau ich kurz mal zum Kinderwagen runter. Alles in Ordnung.
Ich rutsche immer wieder. Das Schwimmbad hier ist gar nicht so übel. Wenn man nur nicht so lange anstehen müsste. Als nächster bin endlich ich wieder dran. Vor mir rutscht ein Mädchen, das dauernd bremst. Ich warte, bis es fast unten ist, sonst rutsche ich ihm hinten drauf. Zeit genug, die Aussicht von hier oben zu genießen.
Anne-Marie! An die hab ich ja gar nicht mehr gedacht.
Ich schau zum Beckenrand. Da steht kein Kinderwagen. Auf der Wiese auch nicht -
„Rutsch endlich!“, sagt der Junge, der hinter mir steht, und gibt mir einen Schubs. Ich stolpere, falle, rutsche, stoße mich, plumpse ins Wasser, verschlucke mich, tauche auf, kraule zum Beckenrand, der Kinderwagen, der Kinderwagen -
Ich renne um das Nichtschwimmerbecken, das große Schwimmbecken, den Sprungturm. Kein Kinderwagen, nirgends. Ich trau mich kaum ins Wasser zu schauen, tu’s doch, renn noch einmal ums Becken, immer die Augen im Wasser, dann die Treppe hinunter bis zur Glaswand, stehe da und starre unter Wasser. Wenn ein Kinderwagen drin läge, das müsste ich doch sehen, oder?
Wenn sie entführt worden sind! Es gibt böse Männer, die entführen kleine Kinder und machen ganz schlimme Sachen mit ihnen –
Auch mit Babys?!
Mama dreht durch, wenn sie das erfährt.
Ich renne zum Bademeister und frage ihn nach den Zwillingen. „So einer bist du also!“, sagt er und mustert mich scharf. „Lässt deine kleinen Schwestern einfach stehen. In der Sonne! Einen Hitzschlag hätten sie kriegen können, geschrien haben sie und geschwitzt, aber der Herr Bruder denkt ja nur an sein Vergnügen und schert sich gar nicht darum! Geh ins Büro, dort sind sie! Aber eines sage ich dir, wenn ich dein Vater wäre, dann würde ich dir -“
„Danke“, murmle ich schnell und renne davon. Auf einen Vater wie den kann ich verzichten. In der Nähe der Umkleidekabinen höre ich sie schon schreien, Anne-Marie. Ich stürze ins Büro, eine Frau ist bei Anne-Marie und schaukelt den Kinderwagen.
„Das sind meine Schwestern“, sage ich, schnappe mir den Kinderwagen und ehe sie auch noch etwas sagen kann, schiebe ich Anne-Marie schnell zur Umkleide, schlüpfe in meine Kleider und rase mit den beiden nach Hause.
Die Haustür geht auf. Mama hat mich vom Küchenfenster aus gesehen. „Du warst lang weg, ich hab richtig was geschafft in der Zeit, Dank dir, das hat gut getan“, sagt sie, und dann sieht sie mich an und stutzt und sagt: „Mein Gott, Jens, was ist denn mit dir, du bist ja ganz aufgelöst!“, und sie zieht mich an sich und streichelt meine Haare. Anne und Marie wollen aus dem Wagen raus, aber Mama drückt mich immer weiter und sagt: „Ist ja gut! Ich bin ja bei dir!“ und „Was ist denn passiert?“
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