Erst zu spät fiel ihr ein, dass sie gar kein Eis gekauft hatte. Doch da kam auch schon Mareike angerannt, mit zwei Eistüten in der Hand. Eine gab sie Greta. »Wäre doch blöd, wenn wir die ganze Zeit umsonst angestanden hätten.«
Greta nickte dankbar, immer noch aufgewühlt von den Geschehnissen. Sie riss das Papier auf und leckte freudlos über die weiße Spitze ihres Dolomitis.
»Pimmel, hm?«, kicherte Mareike. »Ich wusste gar nicht, was für Wörter du kennst.«
»Ich auch nicht«, brummte Greta. Dann musste sie auch grinsen. Sie wusste selbst nicht mehr, was da vorhin in sie gefahren war. Aber als sie Finn bluten sah, vergaß sie alle Angst und Vorsicht und wurde nur noch von dem einen Gedanken beherrscht: ihm beizustehen. Allerdings hatte er ihren Einsatz nicht sonderlich geschätzt, vielmehr schaute er sie kein einziges Mal an, nachdem die Klopperei vorbei war.
»Aber sag mal, was ist eigentlich eine Fotze?«, fragte Mareike und schleckte genüsslich an ihrem Cola-Eis.
»Keine Ahnung. Was ziemlich Hässliches würde ich sagen, wenn Markus mich so bezeichnet.«
Der Herbst war in diesem Jahr stürmisch und kalt. Die Leute zogen sich in ihre Häuser zurück. Gretas Eltern hatten einen Kamin in ihrem Wohnzimmer, vor dem sich die Familie abends versammelte. Sie spielten eine Runde Rommé, dann griff sich Erika Bubendey einen Korb mit Wäsche, die geflickt werden musste. Greta holte sich ein Buch, sie las gerade Fünf Freunde auf Schmugglerjagd von Enid Blyton, das sie wahnsinnig spannend fand. Julia saß am Wohnzimmertisch und bastelte undefinierbare Papiergebilde.
Ihr Vater gesellte sich zu Julia und stellte ihr auf spielerische Weise Rechenaufgaben, die sie alle perfekt löste.
»Das machst du sehr gut, Julia.« Hartmut Bubendey nickte zufrieden. »Und nun wollen wir mal sehen, was Greta kann.«
Greta, die sich gerade an einer besonders spannenden Stelle in ihrem Buch befand, hob flüchtig den Kopf.
»Also, Greta, pass auf: Die Polizei stellt bei der Überprüfung von vierhundert Fahrrädern fest, dass fünfundzwanzig Prozent davon defekt sind. Wie viele Räder sind das?«
Greta sah in die Runde. Alle starrten sie erwartungsvoll an. Sie hasste es, wenn ihr Vater sie zwang, sich mit Dingen zu befassen, die sie nicht interessierten. Aber sie wollte keinen Streit anfangen. Also bemühte sie sich, von Abenteuerroman auf Kopfrechnen umzuschalten, was gar nicht so leicht war.
Im Kamin prasselte das Feuer, während die gesamte Familie Bubendey darauf wartete, dass Greta diese an sich simple Rechenaufgabe löste. In der Schule musste sie viel kompliziertere Aufgaben bewältigen.
»Ich habe das viel schneller geschafft«, krähte Julia, und Greta verspürte auf einmal den hässlichen Drang, ihrer kleinen Schwester eine schallende Ohrfeige zu verpassen.
»Nun, Greta?« Ihr Vater hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Er trug wie immer Anzughose, ein weißes Hemd, Krawatte und einen Strickpullover mit V-Ausschnitt. Seine dunklen, schütteren Haare hatte er akkurat gescheitelt. Mit strenger Miene wartete er auf Gretas Antwort.
»Fünfundsiebzig«, sagte sie, und als ihr Vater missbilligend die Stirn runzelte, löste sich der Knoten in ihrem Kopf und sie korrigierte hastig: »Nein, nein, hundert.«
»Bist du dir sicher?«
Greta nickte, aber sie war sich keineswegs sicher. Ihr Vater verunsicherte sie mehr als ihre Mathelehrerin. Die war eigentlich eine freundliche Frau und schaute nicht halb so streng wie Hartmut Bubendey.
Ihr Vater hob gerade zu einer neuen Aufgabe an, als Erika Bubendey sagte: »Kann es sein, dass der Rauchabzug vom Kamin nicht richtig funktioniert?«
»Warum?« Ihr Mann hob erstaunt den Kopf.
»Ich habe das Gefühl, dass es hier sehr stickig ist. Mir ist direkt ein wenig flau.«
Hartmut Bubendey stand auf und begutachtete den Kamin. »Es ist alles in Ordnung. Sonst würde es qualmen.«
»Ja, sicher.« Gretas Mutter legte ihr Stopfzeug zur Seite. »Ich gehe mal kurz auf die Terrasse, brauche ein bisschen Sauerstoff.«
»Bei dem Wetter?« Greta schaute zu den Wohnzimmerfenstern, gegen die der Regen prasselte.
Ihre Mutter antwortete nicht. Stattdessen öffnete sie die Terrassentür. Kalte, feuchte Luft fegte herein und das Kaminfeuer flackerte heftig. Erika Bubendey tat ein paar tiefe Atemzüge. Als sie sich wieder umdrehte, waren ihre Haare vom Wind zerzaust und ihr Gesicht vom Regen benetzt.
»Vielleicht werde ich krank«, murmelte sie. »Ich mache mir mal einen Tee und gehe zu Bett.«
Greta sah ihrer Mutter beunruhigt hinterher. Sie war doch nie krank. Und sie ging auch nie vor ihren Kindern schlafen.
Ihr Vater klatschte in die Hände. »Für euch ist auch Schlafenszeit. Ab ins Badezimmer zum Zähneputzen.«
»Jetzt schon?« Greta sah auf die Uhr. Normalerweise durfte sie immer noch etwas länger als Julia aufbleiben.
»Allerdings. Für dich gibt es keine Extrawurst, mein Fräulein.«
Murrend folgte Greta ihrer Schwester ins Badezimmer. Zum Gutenachtsagen kam an diesem Abend nur ihr Vater an ihr Bett. Auch das war ungewöhnlich. Nachdem sie alleine war, wälzte Greta sich eine Weile im Bett hin und her. Dann holte sie eine Taschenlampe aus ihrer Nachttischschublade. Unter der Bettdecke las sie ihr Buch fertig. Sie musste einfach wissen, wie es ausging, auch wenn sie dadurch viel zu spät einschlief.
Am nächsten Morgen erschien ihre Mutter im Morgenmantel zum Frühstück. Das kam sonst nie vor. Normalerweise war sie immer schon angezogen, wenn die Mädchen aufstanden.
»Bist du wieder gesund, Mama?«, fragte Greta.
»Ein bisschen Kopfweh habe ich noch, das ist alles.« Erika Bubendey schmierte lächelnd Butterbrote für die Schule, wie sie es jeden Morgen tat.
Als Greta mittags heimkam, verkündete ihre Mutter, es gäbe heute Tiefkühlpizza. Hartmut Bubendey, der ebenfalls jeden Mittag zum Essen nach Hause kam, zog überrascht die Augenbrauen hoch, aber seine Töchter waren hellauf begeistert. Normalerweise gab es bei ihnen nie so tolle Sachen, immer nur Gemüse, Kartoffeln und Fleisch.
»Habt ihr viele Hausaufgaben auf?«, fragte ihre Mutter.
»Bei mir geht es ganz schnell.« Julia stopfte ein Stück Salamipizza in ihren Mund.
»Bei mir ist es eine Menge«, erklärte Greta verdrossen. »In Erdkunde müssen wir Landkarten zeichnen, das dauert bestimmt ewig.«
»Nun, dann setz dich bitte gleich ran. Und du auch, Julia. Erst Hausaufgaben, dann Spielen.« Erika Bubendey sah ihre Töchter der Reihe nach mahnend an. »Ich werde mich inzwischen ein Stündchen hinlegen, so ganz wohl ist mir immer noch nicht.«
Bald darauf stand sie auf und verließ die Küche.
Hartmut Bubendey wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Ihr habt gehört, was eure Mutter gesagt hat.«
Die Mädchen nickten.
»Und seid leise, ja? Eure Mutter braucht ein bisschen Ruhe.«
Wieder nickten die Mädchen, diesmal erstaunt. Von ihrem Vater kannten sie es durchaus, dass er sich zu einem kurzen Mittagsschlaf zurückzog, bevor er wieder in die Apotheke ging. Aber ihre Mutter legte sich nie tagsüber hin.
Doch sie begriffen bald, dass sich etwas verändert hatte. Immer häufiger klagte ihre Mutter in nächster Zeit über Müdigkeit und Kopfschmerzen, und bald wurde es ihr zur Gewohnheit, sich jeden Mittag für ein, zwei Stunden zurückzuziehen. In dieser Zeit hatte absolute Stille zu herrschen, selbst das Telefon schaltete ihr Mann aus, bevor er wieder zur Arbeit ging.
»Was hast du denn, Mama?«, fragte Julia einmal.
»Ach, mir ist nur ein wenig schwindelig. Das kommt von den dummen Kopfschmerzen. Aber wenn ich mich ausruhe, wird es rasch besser.« Ihre Mutter zog Julia auf ihren Schoß. »Hast du Lust, mit mir Plätzchen zu backen? Advent ohne Plätzchen ist doch doof, oder?«
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