Er stellte sich ans Fenster, starrte den Vollmond an, der sich am wolkenlosen Nachthimmel emporschob, und dachte unentwegt an Greta. Und als hätten sich seine Gedanken materialisiert, erschien auf einmal unten im Hof eine Gestalt mit langen Haaren. Sie ging zögernd ein paar Schritte Richtung Strand, blieb einen Moment stehen und drehte wieder um. Als das Licht einer Laterne auf ihr Gesicht fiel, erkannte Finn, dass es Greta war.
Er zögerte nicht eine Sekunde.
Greta fühlte sich seltsam verloren. Die vielen Gefühle in ihr verwirrten sie. Hatte Finn sie nicht all die Jahre für eine doofe Ziege gehalten, die Luft für ihn war?
Er hatte sie nie angeschaut, wenn sie sich zufällig auf der Straße trafen. Aber hier, in diesem tristen Freizeitheim, hatte er ihre Hand festgehalten und sie umarmt, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Sie wusste nicht recht, wohin. Zum Schlafen war sie zu aufgedreht, aber sie wollte auch nicht mit Mareike und den anderen zusammen sein. Also schlenderte sie ziellos über das Gelände des Freizeitheims, bis sie sich auf einer Bank bei den Tischtennisplatten niederließ. Es war ziemlich dunkel hier, nur der Mond, der groß und rund am Himmel hing, spendete Licht.
Als sie Schritte hörte, schrak sie zusammen – bis sie die hochgewachsene Gestalt von Finn erkannte.
Er trat lachend näher. »Heulst du den Mond an?«
»Ja, genau.« Greta lachte auch, nervös und viel zu hoch für ihren Geschmack. »Und gleich werde ich mich in einen Werwolf verwandeln.«
Finn schaute auf seine Uhr. »Mitternacht ist schon rum. Schätze, da ist was schiefgegangen mit deiner Verwandlung.«
Er setzte sich neben sie, so dicht, dass sich ihre Beine berührten. Vom Meer kroch eine feuchte Kühle herauf, und Greta fand es nicht nur aufregend, Finns Wärme zu spüren, sie war auch dankbar dafür.
Schweigend saßen sie so da, sich der Nähe des anderen auf eine aufwühlende, verlegene Weise bewusst. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund und auf der Straße oberhalb des Heims fuhr ein Auto vorbei. Sonst war es still.
Greta war es, die diese Stille endlich durchbrach.
»Ich dachte, du findest mich eingebildet.«
»Und ich dachte, du willst nichts mit mir zu tun haben.«
Sie wagte nicht, ihn anzusehen. »Das war doch nur, weil meine Eltern mir den Umgang mit dir verboten haben.«
»Was?« Er klang bestürzt.
»Ja.« Greta räusperte sich. »Damals schon, nach dem Unfall am Todesberg.« Sie schämte sich auf einmal, weil sie Eltern hatte, die so unsinnige Verbote aussprachen.
»Darum hast du nicht mehr mit mir gesprochen?«, fragte Finn leise.
Sie nickte. »Aber du hast ja auch nicht mit mir gesprochen.« Es war ein kläglicher, unnötiger Versuch, sich zu verteidigen.
»Wie denn auch, wenn du mir immer ausgewichen bist.« Jetzt schwang Zorn in seiner Stimme mit, und einen Moment lang fürchtete Greta, nun sei alles wieder vorbei, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.
Doch dann sagte Finn: »Das war schön heute Abend.«
»Ja«, flüsterte sie.
Wie von selbst fanden sich ihre Hände erneut, umschlossen einander wie kostbare Schätze.
Und nun wagte Greta auch, den Kopf in Finns Richtung zu heben. Er sah geheimnisvoll aus im Mondlicht und wunderschön – auf eine aufregende Weise männlich, obwohl er doch erst vierzehn war.
Ihre Blicke trafen sich, und vielleicht war es der Mond oder die Nachtstimmung oder einfach nur ihre jugendliche Verliebtheit. Jedenfalls hatten sie beide das Gefühl, dass etwas Magisches geschah, als sie einander anschauten. Das silbrige Mondlicht verzauberte sie und wob ein Band zwischen ihnen, das niemand mehr jemals wieder zu trennen vermochte.
Finn hob eine Hand und strich mit dem Finger über Gretas Wange, ungefähr da, wo sich ihre Narbe befand. Sie hielt den Atem an, während ihr Herz beinah aus ihrer Brust sprang. Und dann beugte Finn sich vor und hauchte einen Kuss auf ihre Wange, nur ein winziges Stückchen unterhalb der Narbe.
Greta zitterte, vor Aufregung, aber auch vor Kälte. Finn legte einen Arm um sie und sie barg ihren Kopf an seiner Schulter und ließ sich von ihm wärmen.
»Wenn wir uns am Montag auf der Straße begegnen, wirst du dann wieder so tun, als würdest du mich nicht kennen?«, fragte er.
Greta schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich!«
»Aber was ist mit deinen Eltern?«
»Keine Ahnung. Wir sagen es ihnen einfach nicht.«
»Gute Idee«, sagte Finn. Doch seine Stimme klang alles andere als begeistert.
Es war ein wundervoller Sommer, vielleicht der schönste ihres Lebens. In jeder freien Minute stahl Greta sich mit Finn davon. Sie radelten gemeinsam zum Todesberg, badeten im See oder saßen stundenlang an der Pferdeweide vom Petershof und erzählten einander alles, was sie bewegte.
Bei schlechtem Wetter verkrochen sie sich gelegentlich in Finns Zimmer. Seine Familie wohnte in einem unscheinbaren Haus am Rande des Ortes. Hinten im Hof befand sich die Schmiede von Ole Janssen, den Greta nie zu Gesicht bekam. Finn achtete immer darauf, dass sie wieder ging, bevor sein Vater ins Haus kam. Allerdings sah sie Ole Janssen gelegentlich im Ort auf der Straße. Er blickte meistens recht finster in die Gegend und sprach nur mit wenigen Leuten.
Annemarie Janssen war es egal, mit wem Finn seine Zeit verbrachte. Sie nickte Greta freundlich zu, während sie den Staubsauger durch das Haus schleppte oder in der Küche stand und kochte. Sie war sicher mal eine sehr schöne Frau gewesen. Finn hatte ihr hübsches Gesicht und die dunklen Augen mit den langen Wimpern geerbt. Doch die Ehe mit einem gewalttätigen Trinker und die Geburt von vier Kindern war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Bitterkeit und Erschöpfung spiegelten sich in ihrem Gesicht wider und ihre Hände sahen rissig und rot aus.
Finn teilte das Zimmer mit seinem jüngeren Bruder Martin, der nicht immer Lust hatte, das Feld für die beiden zu räumen. Mürrisch hockte er auf dem Bett und beobachtete genau, was Greta und Finn taten.
Darum besuchte Greta Finn nur selten.
Aber in den wenigen Stunden saßen sie Arm in Arm auf Finns Bett, hörten Musik und träumten davon, wie es sein würde, wenn sie eines Tages erwachsen wären.
»Ich möchte drei Kinder«, sagte Greta. »Einen Jungen und zwei Mädchen.«
»Warum nicht zwei Jungen?«
»Das wären mir zu viele Rabauken.«
»Rabauken, so, so.« Finn beugte sich vor und sein Mund streifte Gretas Wange. »Was hast du gegen Rabauken?«
»Gar nichts, solange sie älter als dreizehn sind.« Greta kicherte und Finn warf ein Kissen nach ihr. In gespielter Entrüstung fiel sie über ihn her und kabbelte sich mit ihm. Immer häufiger endeten diese Spielereien in einer zärtlichen Umarmung.
Ihren ersten richtigen Kuss erhielt Greta am See, an einer einsamen Stelle, an der Bäume und Sträucher dicht am Ufer wuchsen und es nur einen matschigen Pfad zum Wasser gab. Es war ein kühler, grauer Tag, aber das bemerkte sie gar nicht. Sie hatte nur Augen für Finn, der mit ihr durch die Natur streifte.
Er wirkte seit Tagen besonders zufrieden, weil er seinen Vater endlich dazu gebracht hatte, ihm das Reiten zu erlauben. Seitdem sprach er unentwegt von den Ponys auf dem Petershof. Greta, die mittlerweile im Reitverein bereits bei Turnieren mitmachte, bemühte sich, ihre Überlegenheit nicht zu zeigen. Sie fand es ohnehin erstaunlich, dass sich ein Junge wie Finn für Pferde interessierte.
Doch jetzt hatte er nur Augen für Greta. Er nahm ihre Hand und führte sie über Wurzeln und umgestürzte Baumstämme zum Ufer des Sees. Im Schilf hockten ein paar Enten, und eine kam neugierig näher, drehte aber bald wieder ab, als sie merkte, dass Greta und Finn kein Futter dabei hatten.
Sie fanden eine trockene, sandige Stelle zum Sitzen und genossen, wie so oft, wenn sie zusammen waren, das gemeinsame Schweigen, das sie aus den unterschiedlichsten Gründen verband, seit sie einander kannten. Doch jetzt hatte es eine neue Qualität erlangt.
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