Greta hörte kaum, was Pastor Behrmann erzählte, so sehr brachte Finns Nähe sie durcheinander. Sie glaubte, jeden seiner Atemzüge zu spüren, und in ihrem Bauch flatterte auf einmal alles.
Pastor Behrmann breitete bunte Karten auf dem Fußboden aus. Er forderte die Jugendlichen auf, sich das Kärtchen zu nehmen, das sie am meisten ansprach. Dann musste jeder den Text vorlesen, der auf seiner Karte stand.
Greta beobachtete, wie Finn mit geschmeidigen Bewegungen durch den Raum schritt und sich zielsicher nach einer Karte bückte. Sie selbst brauchte etwas länger beim Auswählen.
Als er an der Reihe war, sagte Finn mit fester Stimme: »Auf meiner Karte steht Glück.«
Pastor Behrmann nickte beeindruckt.
Dann war Greta dran.
»Freundschaft«, murmelte sie so leise, dass Pastor Behrmann sie aufforderte, es zu wiederholen.
Später hielt der Pastor eine kurze Andacht, die er mit einem Segen abschloss.
»Steht dazu bitte alle auf und fasst Euch an den Händen«, sagte er.
Greta spürte rechts Mareikes schmale Hand, die sich federleicht in ihre schob. Die Freundin grinste breit. Und dann tasteten auch auf der linken Seite Finger nach ihr. Kräftige Finger, die ihre Hand sicher umschlossen, warm und fest.
Greta warf Finn einen scheuen Blick zu und – es war kaum zu glauben! – er sah sie auch an und lächelte.
Hand in Hand standen sie dicht nebeneinander, während Pastor Behrmann die uralten Segensworte sprach. Und als sich danach alle setzten, hielt Finn Janssen Gretas Hand immer noch fest umschlossen, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Am nächsten Tag nahmen alle im Stuhlkreis die Plätze ein, die sie auch am Abend zuvor gehabt hatten – wie das immer so war bei derartigen Veranstaltungen. Obwohl sie kaum ein Wort mit Finn wechselte, genoss Greta seine Anwesenheit. Sie bewunderte heimlich Finns schlanke Figur und sein schönes Gesicht mit den dunklen Augen, die unglaublich lange Wimpern hatten. Er überraschte nicht nur Pastor Behrmann, sondern auch Greta, indem er sich bei allen Übungen, die sie machten, intensiv einbrachte.
Auf die Frage, was für sie das Wichtigste im Leben sei, antwortete er: »Dass ich glücklich bin.«
Und als es um die Frage ging, wie er sich seine Zukunft vorstellte, sagte er: »Ich möchte die Frau, die ich liebe, heiraten. Ich möchte mit ihr in einem eigenen Haus wohnen und Kinder haben. Und ich möchte einen Beruf erlernen, der mich erfüllt und mir Freude macht.«
Greta wusste auf beide Fragen keine rechte Antwort zu geben. »Das Wichtigste im Leben sind meine Familie und meine Freunde«, sagte sie schließlich. »Und für die Zukunft wünsche ich mir Glück und Gesundheit.« Aber irgendwie klang das hohl und nicht halb so überzeugend wie Finns Worte.
Doch sie spürte, wie sich zwischen ihnen eine Wärme ausbreitete, die sie zum Glühen brachte, wann immer sich ihre Körper zufällig berührten.
»Ich glaube, ich bin total verliebt in ihn«, gestand sie Mareike in der Mittagspause, in der sie zu zweit einen Spaziergang am Strand machten. Es war ein milder Frühlingstag, sonnig und windstill. Kinder bauten Sandburgen und ihre Eltern saßen in Strandkörben und sonnten sich.
Mareike kicherte. »Ich glaube, er ist auch in dich verliebt. Er schaut dich so oft an.«
»Wirklich?« Greta konnte es nicht fassen, doch Mareike nickte mit breitem Grinsen.
Abends saßen sie wieder auf ihren vertrauten Plätzen im Stuhlkreis, als Pastor Behrmann eine Andacht hielt. Dicke Altarkerzen verbreiteten eine heimelige Atmosphäre. Zum Abschluss forderte der Pastor die Jugendlichen wie am Tag zuvor auf, während des Segens aufzustehen und sich an den Händen zu halten.
Es fühlte sich schon beinah vertraut an, Finns kräftige, warme Finger zu spüren, und als er zweimal hintereinander zudrückte, ging Greta auf dieses kleine Signal ein und erwiderte es.
Nachdem der Pastor den Segen gesprochen hatte, sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme: »Wenn ihr mögt, dürft ihr einander nun in die Arme nehmen und euch gegenseitig sagen: ›Schön, dass du da bist.‹«
Ein verlegenes Kichern setzte ein und die Jugendlichen standen einen Moment steif und ratlos in der Runde. Dann warf sich jedoch ein Mädchen gackernd in die Arme seiner besten Freundin und der Bann war gebrochen.
»Schön, dass du da bist.« Auch Mareike und Greta umarmten einander lachend. Weitere Mädchen kamen hinzu und dann sogar der eine oder andere Junge.
Als Greta sich das nächste Mal umdrehte, stand Finn dicht vor ihr. In seinen dunklen Augen funkelten bernsteinfarbene Sprenkel und er lächelte auf eine Weise, die Gretas Innerstes zum Schmelzen brachte.
Finn, der ein Stückchen größer als sie war, beugte sich zu Greta herab und schlang seine langen Arme fest um sie. Keiner der anderen Jungen hatte sie auf diese Weise umarmt, entschlossen und stark und ein wenig besitzergreifend. Greta fühlte an ihrer Wange den Stoff von Finns Wollpullover und darunter seinen Herzschlag.
»Schön, dass du da bist«, flüsterte er in ihr Ohr, und Greta vermochte nicht zu antworten, so sehr geriet alles in ihr in Aufruhr. Finns Nähe ließ sie vibrieren und zittern und brachte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele zum Schwingen.
Wie benommen stand sie mitten im Raum, nachdem Finn sich endlich wieder von ihr gelöst hatte, und schwindelig vor Glück nahm sie nichts und niemanden mehr wahr außer dem Jungen vor sich, der so aufgewühlt aussah, wie sie sich fühlte.
»Die anderen wollen eine Nachtwanderung machen«, riss Mareike sie aus ihrer Versenkung. »Kommst du auch mit?«
»Mal sehen«, murmelte Greta abwesend. Als sie sich wieder umwandte, war Finn verschwunden.
Finn raste peinlich berührt zur Toilette und kam erst wieder heraus, als er sicher war, dass seine Zimmergenossen alle zur Nachtwanderung aufgebrochen waren. Er hätte nie gedacht, dass es ihn so aus der Bahn werfen würde, Greta Bubendey zu umarmen.
Finn hatte die Aufforderung des Pastors als wunderbare Gelegenheit empfunden, sich Greta ungestraft nähern zu können. Sie hatte ihn in den letzten Tagen wiederholt auf sehr bezaubernde Art angelächelt, ein wenig schüchtern, fast verlegen, aber doch so, dass es ihm Mut machte.
Sie sah wunderschön aus, mit strahlenden Augen und rosigen Wangen. Ihre blonden Haare fielen ihr seidig über die Schultern und umspielten ihr zartes Gesicht. Finn konnte sich nicht sattsehen an ihrem Anblick. Und als er beim Segen ihre Hand nahm, mochte er sie nie mehr loslassen.
Das Verrückte dabei war, dass es Greta zu gefallen schien. Ihre Hand lag leicht und zart in seiner, und als er sie sanft drückte, trat sie in stumme Zwiesprache mit ihm und erwiderte seinen Händedruck.
Als er dann allen Mut zusammennahm und sie umarmte, war das, als würde er in ein tiefes Meer eintauchen, umhüllt und geborgen, wobei er immer weiter nach unten gezogen wurde und nichts mehr wahrnahm außer dem Rauschen in seinen Ohren.
Gretas Körper fühlte sich so zart an und ihr Haar duftete wundervoll nach Frühlingsblumen.
Ja, und dann spürte Finn noch etwas. Greta war im Begriff, eine Frau zu werden. Kleine, weiche Brüste, die er unter ihren weiten Pullovern bislang noch gar nicht wahrgenommen hatte, pressten sich gegen seine Brust.
Und auch er war kein Kind mehr, und sein Körper reagierte wie der eines Mannes.
Verlegen löste Finn sich von Greta, zutiefst beschämt einerseits, erfüllt von dem innigen Moment andererseits. Gretas Gesicht glühte und brachte etwas in ihm zum Brennen.
Da wurde sie durch ihre Freundin Mareike abgelenkt, und er nutzte den Augenblick und floh auf die Toilette.
Dort saß er mit pochendem Herzen und pulsierenden Lenden und wusste nicht, wohin mit all seinen Empfindungen. Durch ein offenes Toilettenfenster hörte er die Stimmen der anderen auf dem Hof, die sich lachend und rufend zur Nachtwanderung versammelten, angeführt von Pastor Behrmann, der ein Lied anstimmte. Als das Lachen und Singen sich immer mehr entfernte, traute Finn sich endlich wieder hinaus aus diesem kalten, unwirtlichen Raum und lief in sein Zimmer.
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