Jeder trägt seine speziellen Lasten. Ein berühmter Gelehrter hat einmal gesagt, dass die Menschen von Weitem alle nett und fröhlich aussehen. Je dichter man ihnen jedoch kommt, umso mehr erkennt man ihre Probleme. Irgendwann würde ich den Grund für diese eigenwillige Frisur erfahren.
„Die Kriminalpolizei hat uns um Hilfe ersucht. Wir benötigen immer einen guten Kontakt zu den hiesigen Behörden, darum habe ich schon einmal zugesagt. Bezahlt werden Sie von uns, denn wir werden einen Teil der Kosten selbst tragen müssen. Später zahlt sich das jedoch wieder aus.“
Ich hörte in Ruhe zu.
„Sie arbeiten mit einem Kommissar zusammen. Er heißt Gordon von Mirbach und ist ein Verwandter des Außenministers, sogar ein waschechter Graf. Seine Familie ist seit Jahrhunderten politisch aktiv und war zeitweise sehr einflussreich. Der Kommissar ist ein guter Mann. Ein Vorfahre von ihm hat vor fast hundert Jahren als kaiserlicher Botschafter sogar versucht, die Zarenfamilie vor ihrem Tod zu bewahren. Ein anderer, der Oberstleutnant Andreas von Mirbach, hat sich 1975 bei einem Botschaftsüberfall durch die Rote Armee Fraktion in Stockholm als Geisel austauschen lassen und opferte dabei sein Leben. Graf Gordon von Mirbachs Eltern, seine Frau und die einzige Tochter wurden vor einigen Jahren während eines Besuches in Nordafrika von arabischen Terroristen entführt. Dem Vater wurde vor laufenden Kameras der Kopf abgetrennt und die anderen lebendig begraben. Man hat sie bis heute nicht gefunden. Sehr bitter war das. Deswegen hat ihr Verbindungsmann die Diplomatenlaufbahn aufgegeben und ist in die Kriminalistik gewechselt. Aufopferung hat also Tradition in der Familie.“
Das war eine sehr merkwürdige Geschichte, die mich neugierig gemacht hatte. Den Hintergrund mit dem früheren Grafen von Mirbach-Harff kannte ich nur zu gut. Er war in Moskau am 07. Juli 1918 durch ein Attentat von Sozialisten ums Leben gekommen. Dieser Graf von Mirbach-Harff hatte zuvor alles getan, um die Freiheit für meine Familie zu erreichen. Der deutsche Kaiser hatte ihn beauftragt. Er hatte sogar ein Sonderkommando für unsere heimliche Befreiung zusammengestellt. Die unglückliche Fügung, die zu seiner Ermordung führte, hatte auch unseren Tod beschleunigt. Nur zehn Tage später folgten wir ihm.
War dieses Zusammentreffen mit einem seiner Nachkommen ein gutes Omen? Merkwürdig war es schon. Wir Russen sind abergläubisch, selbst als Vampire.
„Nun zu den Fällen“, fuhr Max Kräger fort.
„Hier in Berlin verschwinden seit einiger Zeit immer wieder junge Mädchen. Es fehlt jede Spur, jegliches Muster. Auch eine Verbindung zwischen den Mädchen lässt sich bisher nicht herstellen. Die Polizei tappt seit Monaten vollkommen im Dunkeln. Das Thema ist inzwischen bei der Presse angekommen und sowohl der Innenminister als auch der Berliner Bürgermeister werden verantwortlich gemacht. Sie wollen endlich Ergebnisse sehen.“
Dann erzählte er von dem zweiten Fall.
„Es bestand der Verdacht, dass bei einer bekannten Großbaustelle viele Millionen von irgendjemandem veruntreut wurden. Nun ist auch noch der leitende Staatsanwalt plötzlich spurlos verschwunden! Dieser Fall hängt zwar nicht mit den vermissten Mädchen zusammen, aber das Ministerium will sich nicht dem Vorwurf aussetzen, die Polizei bevorzuge die Aufklärung des einen oder anderen. Daraus könnten die Berliner auch wieder Schlüsse ziehen. Um diesen Eindruck zu vermeiden, hat man gleich bei beiden Untersuchungen um unsere Mithilfe gebeten.“
Er schob mir die umfangreichen Dossiers zu.
Mein Gott! Was war das für ein merkwürdiger Zufall?Auf der zweiten Seite schaute mich das Bild meines jetzigen Opfers an! Es war der gesuchte Staatsanwalt. Ich hatte ihn nie konkret nach seiner Arbeit gefragt, denn das war bisher für mich ohne Bedeutung. Solche eigenwilligen Fügungen sind selten. Das waren gleich zwei mysteriöse Verbindungen zu meinem Leben an einem Tag. Unwillkürlich sah ich mich um. Diese Gewohnheit bildet sich in wenigen Jahren des Vampirdaseins heraus, da man sich immer als verfolgt betrachtet.
Waren die beiden Fälle und die Beauftragung eines Mitglieds der Familie des Grafen von Mirbach-Harff auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden?
Oft erkennen gewöhnliche Menschen solche Zusammenhänge nicht, da ihre Lebenszeit zu kurz ist. Durch mein langes Leben hatte ich jedoch mehr Möglichkeiten. Gerade Aufträge dieser Art machten mich besonders neugierig, da sie eine gewisse mystische Komponente hatten, die mich herausforderte. Muster reichen oft weit hinter das jetzige Leben zurück. Die einen sagen „Schicksal“, andere „Karma“ und Dummköpfe „Zufall“ dazu.
Wir begegnen in der Regel keinen Unbekannten, sondern jenen, mit denen wir auf eine besondere Weise etwas offen haben – auf gute oder auf schlechte Art. In der Physik sagt man, dass in einem geschlossenen System niemals etwas verschwinden kann, nicht einmal Energie. Alles wandelt sich nur. Ob sich meine Ahnung bestätigen würde?
Leider war somit auch ich zum Ziel der Ermittlungen geworden. Vielleicht wurde auch schon das Mädchen, mein vorletztes Opfer, vermisst und man bezweifelte den Anruf, der ihr Verschwinden erklärte?
Ich blätterte neugierig die Bilder durch. Es war nicht einmal dabei. Das war gut. Meine primitive Vertuschung hatte also doch funktioniert. Es würden Monate vergehen, bis man Verdacht schöpfte. Im besten Fall erinnerte sich bald niemand mehr an sie. Das war häufig so.
Der Filialleiter bemerkte meine Anspannung.
„Gibt es Probleme? Erscheint Ihnen etwas bekannt? Sie wirken ein wenig verdutzt.“
Ich lenkte ihn auf eine andere Fährte.
„Das wirkt sehr kompliziert. Was werde ich verdienen?“
Sein Misstrauen verflog im Nu. Meine Reaktion erschien ihm wieder verständlich.
„Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“
„Dann wäre von meiner Seite alles klar. Ich übernehme die beiden Aufträge.“
„Das freut mich! Sie können diese Kopien mitnehmen. Über Geheimhaltung, Vernichtung der Akten nach Abschluss der Fälle und so weiter brauche ich Ihnen sicher nichts mehr sagen. Das ist alles wie gehabt. Bei Fragen stehe ich Ihnen zur Verfügung, ansonsten haben Sie vollkommen freie Hand, Zugriff auf alle Dienste und die Unterstützung aller unserer Niederlassungen.“
„Ich werde zusätzliche Sicherheiten benötigen.“
„Wir werden diese erbitten. Teilen Sie mir Ihre persönlichen Forderungen per mail mit. Sie können bei irgendwelchen Problemen natürlich jederzeit ablehnen.“
Der Filialleiter gab sich sehr professionell. Er war die Zusammenarbeit mit besonderen Mitarbeitern gewohnt. Diese hatten ihren Preis, wie auch die Arbeit der Detektei. Das machte die Verhandlung mit ihm einfach.
Er reichte mir erneut in deutscher Weise die Hand. Ich erwiderte die Verabschiedung.
„Ihre Hände sind endlich einmal warm!“, stellte er fest. Er war ein guter Beobachter.
„Ich hatte mir beim letzten Mal schon Sorgen gemacht!“
„Das liegt am niedrigen Blutdruck und der Epilepsie“, erklärte ich zum tausendsten Mal.
„Ich habe diesmal extra etwas Warmes getrunken.“
„Sie haben ihre Krankheit unter Kontrolle?“
Max Kräger wirkte besorgt.
Ich nickte.
„Dann bringen Sie das Gesindel zur Strecke!“
„Das ist nur eine Frage der Zeit.“
Er lächelte zufrieden und begleitete mich zum Fahrstuhl.
Dieser stand noch immer auf unserer Etage. Die Unterredung hatte also nicht lange gedauert.
Etwas beunruhigt kam ich von der Besprechung in mein Appartementhaus zurück. Das Taxi hatte mich zwei Straßen weiter abgesetzt. Man konnte nie vorsichtig genug sein und stirbt weniger an Vorsicht als an Leichtsinn. Ich zwang mich dazu, nicht nachzulassen und der Bequemlichkeit nachzugeben. Vampire leben gefährlich und haben Feinde. Das wusste ich nur zu gut. Zudem konnte ich so noch einige Schritte spazieren und den umtriebigen Kopf freibekommen.
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