Nur aufgrund meiner konsequenten Weigerung riet der Arzt mir schließlich, ich sollte dann doch einfach alles aufschreiben. Ich sollte wie in alten Zeiten ein Tagebuch führen. Das helfe bei der Bewältigung und sei eigentlich genauso gut. Er rückte sogar mit der Wahrheit heraus. In Amerika werde schon sehr lange offen über die Nutzlosigkeit jeglicher Psychopharmaka diskutiert.
Das meiste vollbringe ohnehin die Zeit. Das vegetative System hinke der übrigen Entwicklung immer stark hinterher und es dauere eben, bis es sich reguliert. Wir Menschen seien nun einmal biologische Wesen und nicht für Großstädte und das Industriezeitalter geschaffen.
Ich schreibe zwar nicht gern, aber es muss wohl sein. Diese Empfehlung war weitaus besser als der beabsichtigte Mord auf Raten.
Es ist nicht so, dass ich den Tod meiner Familie wirklich hinter mir gelassen habe. Die Arbeit gab mir nur zu wenig Zeit, mich dem Verlust der liebsten Menschen dieser Welt emotional hinzugeben. So war Jahr um Jahr vergangen und ich hatte den Schmerz über den Verlust meiner Liebsten mit Ablenkung verdrängt. Menschliche Dämonen hatten sie mir auf bestialische Art genommen. Die unangenehmen körperlichen Auswirkungen waren somit ein Ergebnis des nicht Abfinden wollen und der fehlenden Verarbeitung.
Mein Körper fühlte sich schlapp, müde, erschöpft und ich fand wenig Sinn darin, mich überhaupt zu erheben. Eigentlich stand ich nicht für mich auf, sondern für all die anderen Menschen, die schutzlos diesen Bestien da draußen ausgeliefert waren, die heutzutage überall lauerten. Für diese Schwachen kämpfte ich meine eigene mentale Erschöpfung nieder. Das klingt vielleicht depressiv, aber das heutige Leben ist die wahre Depression.
Die Liebe soll der Sinn des Lebens sein, doch verliert man die Menschen, auf die sie sich bezog, spürt man sehr rasch, dass gerade die Größe dieses Gefühls die Menge der Leiden bestimmt. Die vorherige Zuneigung und der anschließende Schmerz des Verlustes wiegen immer gleich schwer.
Welchen Wert hat aber wiederum das Leben ohne Liebe?
Denkt man andererseits nur an sich, verstrickt man sich immer tiefer in die niederen Gefilde dieser boshaften Welt und wird mehr und mehr zu einem Geschöpf der Selbstsucht und Ignoranz.
Tief im Inneren wissen wir, dass das nicht der richtige Weg sein kann, und bewundern instinktiv die, die altruistisch handeln.
Ich versuche nun, diese Guten zumindest etwas zu beschützen. Vielleicht gelingt es mir so, den eigenen Frieden zu finden. Es ist nicht Rache, die ich will. Den Respekt vor dem anderen fordere ich ein und zeige, dass man auch inmitten des Schmutzes innere Reinheit bewahren kann.
Wir selbst müssen nicht in die Niederungen der Bosheit herabsteigen, nur weil viele es tun. Nein, ich will keine Freude an den Schmerzen der anderen haben, selbst bei den schlechtesten Menschen nicht. Sie können tun, was sie wollen, ich werde nie wie sie denken und stattdessen die wenigen Werte dieser Welt verteidigen, so wie einst die Ritter, die den Inhalt ihres Schwurs ernst nahmen.
Seit sechs Jahren arbeite ich nun bei der Kriminalpolizei. Diese Entscheidung war richtig. Ich trauere der familiär üblichen Diplomatenlaufbahn nicht nach. Mein Onkel und andere Verwandte meinten, meine Entscheidung wäre eine Kurzschlussreaktion. Kriminalkommissare stammten gewöhnlich aus einfacheren Schichten.
Doch nichts erfüllt mich so sehr mit Zufriedenheit wie der Erfolg gegen das Verbrechen. Kein Unschuldiger soll das erleiden, was meine Familie erleiden musste. Ich verabscheue das Verbrechen und die Bosheit zutiefst. Da mein Leben sonst keinerlei Wert für jemanden besitzt, werfe ich es furchtlos in die Wagschale.
Natürlich ist mir bewusst, dass Kriminelles gerade hier in Berlin wie Unkraut nachwächst, da Selbstsucht, Gier und Hass als Nährboden in ausreichendem Maß vorhanden sind. Gerade hat man einen Teil des Gartens vom Unkraut befreit, sprießt schon an der nächsten Stelle neues hervor.
In der Sache der verschwundenen Mädchen und des verschwundenen Staatsanwaltes gehen wir jetzt einen neuen Weg. Die Mittel der Polizeiarbeit sind leider begrenzt. Es mangelt an Freiheit und Geld für die Ermittlung. Doch bei der Suche nach dem Anwalt werden diese Grenzen nun aufgehoben.
Der Innenminister drang darauf, dass wir eine bekannte private Detektei einschalten, egal was es koste. Das renommierte Unternehmen Barnes & Gobler ist international sehr erfolgreich. Auch andere Regierungen, selbst Königshäuser und reiche Privatiers nutzen den diskreten Service. Zuvor war eine Zusammenarbeit nicht gewünscht oder aus Kostengründen abgelehnt worden. Im Falle des Anwaltes ist jedoch alles anders. Meine Vorgesetzten und sogar der Minister selbst, wollen ihn um jeden Preis finden. Öffentlichkeit und Presse machen Druck.
Die Detektei hat Möglichkeiten, die die unsrigen überschreiten. Sie ist nicht an den engen rechtlichen Rahmen wie wir gebunden. Heute traf ich mich zu einer ersten Sondierung mit der von der Detektei beauftragten Mitarbeiterin.
Eigentlich hatte ich nach dem Verlust meiner Familie kein Interesse an Frauen, aber diese weckte auf sehr seltsame Weise meine männliche Neugier. Fast schäme ich mich dafür. Ich will aber in diesem Tagebuch immer ganz offen sein, auch mir selbst gegenüber.
Wir trafen uns in den eleganten Räumen von Barnes & Gobler . Das Ambiente ist nicht vergleichbar mit unseren einfachen Diensträumen. Fleißige Mitarbeiter arbeiteten an den neuesten Computern. Sie saßen in großen Räumen auf teuren Drehstühlen. Alles wirkte gediegen und werthaltig. Einzig die Kühle des Besprechungsraumes war ungewöhnlich. Ich fröstelte sogar ein wenig. Die Mitarbeiterin hatte von diesen niedrigen Temperaturen eiskalte Hände. Da spart die Firma wohl an der falschen Stelle.
Fräulein Woromanowa trug eine Sonnenbrille, obwohl die Zimmer um diese Tageszeit nicht gerade lichtüberflutet waren. Zuerst glaubte ich, es wäre ein eitler Tick wie bei den Rappern, doch dann entschuldigte sie sich vollkommen natürlich und unexaltiert dafür. Sie litt durch ihre Epilepsie unter einer extremen Lichtempfindlichkeit. Das erklärte natürlich alles.
Ihre Stimme hatte einen leichten, unterschwellig russischen Akzent. Das klang recht angenehm und verlieh ihr eine reizvolle Fremdheit. Sie wirkte eigentlich zu jung, um diesen gefährlichen Auftrag zu bearbeiten. Anderseits ist oft gerade die Jugend ein Vorteil, da der Gegner diese unterschätzt. Sicher wurde ihre Wahl nicht ohne Grund getroffen.
Auf meine Frage, ob sie keine Angst vor den Gefahren hätte, lachte sie nur.
„Vor mir muss man Angst haben!“
Sie sagte es so selbstsicher, dass ich das Gefühl hatte, dies könnte wahr sein.
Sie sah mädchenhaft jung aus. Ihr Auftreten wirkte im Gegensatz dazu erfahren. Laut den uns zur Verfügung gestellten Unterlagen war sie bereits zweiunddreißig Jahre alt. Das war schwer zu glauben. Doch warum sollte unser Partner sie älter machen? Dafür gab es keinen Grund.
Olga, so war ihr Vorname, bestand auf besonderer Geheimhaltung unserer Zusammenarbeit. Ich sollte zukünftig nur allgemein sagen, dass unsere Behörde mit Barnes & Gobler zusammenarbeite. Die von dort beauftragten Mitarbeiter sollte ich aber nicht nennen.
Fräulein Woromanowa erbat zudem eine vollkommen freie Hand sowie ungewöhnliche Garantien. Solche Forderungen waren mir bisher noch nie begegnet. Zuerst dachte ich, das sei ein Scherz. Die Detektivin verlangte Sicherheit vor jeglicher Strafverfolgung innerhalb und außerhalb Deutschlands, Schutz durch die deutschen Behörden sowie die Möglichkeit der freien Ausreise aus Europa als auch politisches Asyl, sofern sie es wünschte.
Lehnte eine einfache Mitarbeiterin sich dabei nicht etwas zu weit aus dem Fenster? Als ich meine Skepsis zum Ausdruck brachte, lachte sie und gab mir sehr selbstsicher zu verstehen, dass sie noch weitere spezielle Bedingungen für unsere Zusammenarbeit hatte.
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