Johnny machte eine Pause, stand auf und ging pinkeln. Er kam zurück und fuhr fort:
„Verstehst du deinen Fehler? Du musst ihnen etwas vormachen, wenn sie einen treuen Afrikaner wollen und wirklich glauben, dass ein Afrikaner treu sein kann, dann spiel den Treuen vor. Es kostet dich nix. Aber du bist da wegen eines Ziels, wegen eines ganz präzisen und klaren Ziels, dass du dann in zwei bis drei Jahren erreichen wirst. Dafür brauchst du nicht, dass der weiße Mensch ein reiner Mensch, ein reiner Gott wird, nur weil du schwarz bist. Wenn du den Wohlstand haben möchtest, sollte es dir egal sein, ob deine weiße Freundin rumvögelt oder nicht. Es geht mehr darum, wie kann ich daraus handfest profitieren? Auf dem Weg zum Erfolg solltest du unbedingt Hass und negatives Denken beiseitelassen. Sieh sie nicht als Feinde, sondern als Möglichkeit, als Beute. Wie ein Löwe in der Savanne oder mehr, wie ein Vieh-, ein Kuhzüchter. Der ernährt und pflegt seine Kühe gut, damit er reichlich Milch und später Fleisch hat. In dieser Zeit liebt und schützt er sein Vieh, mehr als alles. Aber an dem Tag, an dem er diese Kuh schlachtet, fragt niemand mehr nach der Liebe. Er liebte seine Kühe, aber hat sie trotzdem umgebracht, um mehr Profit davon zu haben. Hätte er die Kuh als Feind gesehen, hätte er sie nicht richtig verpflegt und hätte im Gegenzug wenig Ertrag bekommen. So sollte man eingestellt sein, wenn man nach Europa geht, um die Armut zu besiegen. Um endlich mal wie der Europäer zu leben. Das ist ein Kampf, das ist ein Krieg und am Ende zählt nur das Ergebnis. Die Europäer lassen uns keine Wahl.“
Johnny machte wieder eine Pause und bestellte sich noch einen Whisky mit viel Eis. Man merkte, dass das Thema ihm sehr nah ging und er redete weiter:
„Das ist der harte Preis, den wir zahlen müssen. Dieser Preis steht in keinem Verhältnis zu all den Gefahren, die viele auf sich nehmen müssen, um nach Europa zu kommen. Viele geben Unsummen aus, wandern monatelang durch die Sahara, viele sterben unterwegs, schwangere Frauen verlieren ihre ungeborenen Babys unterwegs und schauen, wie Aasfresser vom Blutgeruch angezogen, schon die Stelle umkreisen, viele Frauen gebären allein unterwegs in der Wüste, andere Menschen werden unterwegs so krank, dass sie nicht mehr weitergehen können und allein sterben müssen und noch halblebendig sehen, wie sie von Tieren gefressen werden. Viele Eltern sind hier in Kamerun, hoffen, dass ihre Kinder irgendwann mal schreiben werden, um die gute Nachricht mitzuteilen, dass sie angekommen sind. Sie warten, warten, warten und warten und wissen nicht, dass von ihren Söhnen nur noch Knochen irgendwo im Sand oder im Meer übriggeblieben sind, tief begraben.“
Johnny atmete tief ein und wieder aus und mit ernstem Gesicht fuhr er fort:
Die sehr traurige Geschichte eines alten Mannes in Kamerun
„Du kennst bestimmt diese bewegende Geschichte von diesem alten Mann, der müde wurde, auf eine Nachricht von seinen Söhnen zu warten. Er hatte damals alles verkauft und Schulden gemacht, damit die Söhne Kamerun verlassen und mit dem Wohlstand zurückkommen konnten. Er war allein erziehend, da seine Frau bei der Geburt der Zwillinge gestorben war. Die Hoffnung war so riesig. 20 Jahre lang wartete er und wartete er und wartete er. Immer noch keine Nachricht. Er wurde immer älter und älter und unglücklicher und seine Schulden wurden immer größer. Nach 20 Jahren, bedrängt von seinen Schuldnern, von der Armut und von seiner Traurigkeit, beschloss er, das Dorf zu verlassen und nach Douala zum Flughafen zu gehen, um seine Söhne zu suchen. Jeden Passagier, der aus einem Flugzeug kam, fragte er, ob er Sikati und Simo gesehen hatte und zeigte die Bilder der beiden. Leider wussten die Passagiere nicht, wer Sikati und Simo waren. Er dachte, dass alle Menschen die aus einem Flugzeug aussteigen aus der gleichen Stadt kämen, wie sein Dorf. Er wusste nicht, dass es Passgiere gab, die aus Asien kamen, andere aus Amerika, und Afrika und andere aus Europa. Er dachte, dass es außer Kamerun nur Paris gab und alle deswegen aus Paris kommen mussten sich auch alle, wie in seinem Dorf, doch kennen mussten? Leider war das nicht der Fall. Er ging zurück ins Dorf und redete seitdem mit niemandem mehr. Und erst kurz vor seinem Tod fünf Jahre später erfuhr er zufällig, dass die Söhne vor 25 Jahren beim Überqueren des Meeres ins Wasser gefallen waren und wahrscheinlich von Haien gefressen worden waren. Seine Hoffnung, 25 Jahre lang, war umsonst gewesen. Er hatte 25 Jahre lang Pläne geschmiedet. Wenn er ausgelacht wurde, sagte er immer „Wartet nur, bis Sikati und Simo wiederkommen! Ich werde nicht mehr in diesem Haus wohnen. Ich werde ein Auto haben, ein Handy, schöne Schuhe und ihr werdet es bedauern mich ausgelacht zu habe.“ Er hatte keine andere Frau geheiratet und hatte auch keine anderen Kinder. Nun war alles sinnlos. Sein Träume waren aus und vorbei. Die Nachricht vom Tod seiner Söhne gab ihm den letzten Todesstoß und er starb auf tragische Weise, er nahm sich das Leben, indem er sich in einen tiefen Brunnen stürzte.
Die beiden atmeten tief und bleiben einige Minuten stumm, sichtlich betroffen.
„Das ist hart Bruder. Das ist echt hart“, sagte Roger traurig. „Wie viele Familien in Kamerun erleben ähnliche Schicksale? Wie viele Brüder? Wie viele schwangere Frauen, die in der Wüste gebären und das Baby liegenlassen müssen, um weiterzuziehen? Wie viele Menschen, die bei lebendigem Leib von wilden Tieren gefressen werden, weil sie zu schwach sind und vor Schwäche nicht weiterkönnen? Wie viele Männer und Frauen werden von Grenzsoldaten blutig vergewaltigt, unter dem Vorwand, sie hätten das fremde Territorium ohne Papiere betreten? Tausende ihrer Kinder wird Afrika nie mehr wieder sehen. Ihre Leichen, nein, ihre Knochen liegen im heißen Sand der Sahara, in den Tiefen des Meeres zwischen Nordafrika und Europa und ihre Familie stehen hier und hoffen Woche für Woche auf einen Anruf, auf eine Geldüberweisung mit Western Union. Und ich? Ich hatte das Glück dort gesund anzukommen und habe nichts daraus gemacht?“
„Ja, Roger, wenn du all das vor Augen hast, hast du kein Recht, sentimental zu werden. Du hast kein Recht, bzw. es ist sogar eine Sünde, dahin zu kommen, wo das Wasser ist und dieses Wasser nicht zu trinken. Nein, das geht nicht. Das ist Verrat. Du brauchst nicht, dass dir jemand ins Gewissen redet. Du brauchst nicht geliebt zu werden. Du brauchst keine Liebe. Sie macht abhängig und schwach und entfernt dich von deinem Ziel. Du musst dich allein lieben und derjenige sein, der den anderen Liebe gibt, Vertrauen und Sicherheit schenkt. Das ist schwer, aber das sind Investitionen, die dir helfen werden. Du musst, wenn du nach Europa gehst, um vor der Armut zu fliehen, wie ein Gewinner denken. Aber es ist klar, dass nicht alle Afrikaner wegen der Armut nach Europa gehen. Die, die schon viel haben und gut hier in Kamerun leben können, ja, sie haben das Recht auf die Liebe der weißen Frauen zu bestehen und sie zu verlangen, wenn sie sie auch lieben. Bei ihnen ist das etwas anderes. Die Beziehung steht auf einer anderen Basis. Sie können jammern, sich beklagen, sogar den Luxus haben, sich Sorgen zu machen und unglücklich zu sein. Sie dürfen dieselben seelischen Krankheiten wie die Weißen haben. Nicht jeder kann das. Der weiße Mensch kann Depression haben, zu Hause bleiben und weiterleben. Der Staat kümmert sich um ihn. Er kann jammern und sich beklagen, weil er weiß, die Eltern springen zu Hilfe. Die Afrikaner, die hier „gut geboren“ sind, können dort auch so leben. Ihre Eltern pumpen jeden Monat Geld zu ihnen nach Europa. Sie dürfen auch negative Gefühle zulassen. Sie werden von irgendjemand wahrgenommen. Aber wir? Menschen wie du und ich, wir haben keine Wahl. Wir müssen Erfolg haben. Wir müssen vergessen, dass es Schmerzen gibt. Wir müssen vergessen, dass es Sorge gibt. Wir müssen vergessen, dass Worte wie „Es geht mir nicht gut, ich schaffe es nicht, ich kann es nicht…“ je existiert haben. Die Weißen zeigen uns dramatische Bilder von Menschen, die im Meer ertrinken. Sie hoffen, dass diese Bilder uns abschrecken. Wenn ein Löwe nur normalen Hunger hat, greift er auch schon mal ein Krokodil im Wasser an, obwohl er wasserscheu ist. Wenn er aber Wochen nichts gegessen hat, hat er keine Angst einen erwachsenen Elefanten anzugreifen. Angst davor, von dem Elefanten zum Tod getrampelt zu werden? Hahaha, wird er lachen. Er wird dir antworten, „ob, ich wegen Hungers sterbe, oder beim Versuch diesem Hunger zu entkommen, ändert es etwas?“ Im Gegenteil, sollte er sterben, weil er versucht hat seinen Bauch zu füllen, wäre es ein stolzer Tod. Ein gelungener Tod. Andere sprengen sich in die Luft und sind Märtyrer. Diese Bilder von versunkenen Schiffen, von schwarzen Leichen, die auf dem Wasser schwimmen, motivieren uns noch mehr. Nein der Tod macht uns keine Angst. Das Meer noch weniger.
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