Felix nahm seinen Stuhl und rückte näher in den Halbkreis. Er nickte, ohne jemanden direkt anzuschauen und grüßte: „Bin der Felix.“ Keine der Frauen beachtete jedoch Felix groß. Nur sein neuer Sitznachbar, hielt ihm die Hand hin und sagte leise: „Willkommen im Club, ich bin der Roland.“
Die junge Frau schaute hoch, schnäuzte sich kurz die Nase und erzählte dann weiter mit gleichbleibend leiser Stimme:
„Tja, was soll man zu solchen Gefühlen weiter sagen. Ich trage sie seit zehn Jahren mit mir rum. Ich habe Geschichte auf Lehramt studiert und direkt vor meinem Staatsexamen standen alle schlechten Sachen dieser Welt plötzlich Schlange vor meiner Tür. Ich bekam eine Hausstaub- und Tierhaarallergie, ich nabelte mich von meinem Elternhaus ab, weil ich die ständigen Belehrungen nicht mehr ertragen konnte, mein Freund verließ mich wegen einer anderen, ich musste HartzIV beantragen, weil die Eltern nicht mehr zahlten und dann kam der Prüfungsstress dazu. Was willst du mehr? Super, oder? Was folgte, war der erste Nervenzusammenbruch. Den zweiten hatte ich im Referendariat. Ich merkte, dass ich Kinder hasste, aber da war alles schon zu spät. Super, oder? Alles verloren, geil, nicht?
Ich werde, wenn ich aus der Misere wieder rauskomme, einen normalen Beruf erlernen, vielleicht Ergotherapie…aber keine Kinder!
Jetzt habe ich die neuen Tabletten bekommen, viel Sinn sehe ich da aber nicht drin…“
In der Pause gingen die Raucher in den Hof, der weitläufig von einer zwei Meter hohen Efeu begrünten Steinmauer umfasst wurde.
Roland, der Sitznachbar von Felix, blieb auch diesmal in der Nähe von Felix.
Während Felix das Aufnahmeformular studierte, entpuppte sich Roland als Kettenraucher.
Felix kam an eine bestimmte Stelle im Formular und las die Frage halblaut vor:
„Welcher Arzt übergab, beziehungsweise verschrieb Ihnen das oben genannte, die oben genannten Medikamente? -
Komisch hier sind ja gleich zehn Ärzte schon eingetragen, man soll bloß noch ankreuzen? Wie denn das? Was macht jemand, der von einem anderen Arzt kommt?“
Roland zuckte mit den Schultern und meinte:
„Ja, ist schon so hier, alles etwas elitär, kreuze einfach an, dann hast Du Ruhe. Die wollen doch bloß alle was abrechnen…“
„Na gut, okay, aber hier geht’s jetzt um: physical well-being, social/family well-being, additional concerns, emotional well-being und funktional well-being…das ist ja der Hammer, da brauche ich ja zwei Stunden dafür, um alles zu beantworten! Okay, zumindest die Fragen unter „physical well-being“ kann ich ja schon mal angehen, also: I have lack of energie…da kreuze ich die Ziffer 2 an, mit „Somewhat“.
Dann: Because of my physical condition, I have trouble meeting the needs of my family…mhh, da kreuze ich die Ziffer 3 an, mit „Quite a bit“…Ach ich geb’s doch auf. Ich mache das später zu Hause.“
„Was nimmst Du eigentlich zur Zeit?“, fragte Roland, während er den kläglichen Rest seiner Zigarette an der Hauswand ausdrückte.
„Du meinst, welches Medikament ich nehme? Ich nehme zurzeit gar nichts. Aber mein Arzt hat mir so‘n Zeug mitgegeben. Das Mittel hat keinen richtigen Namen. Es war eine Zahl…warte, ich hab‘s, 463, ja genau. Alles ohne Beipackzettel. Ich glaube, die Ärzte halten uns alle für Idioten. Schluck und frage nicht, so ist deren Devise“, antwortete Felix.
„Du, die Zahl, die habe ich schon mehrfach gehört. Hier waren schon eine Reihe von Typen. Jeder von denen hatte schon mindestens das fünfte Präparat. Dann tönten sie, dass sie neuerdings 463 bekommen hätten. Ja und was soll ich Dir sagen, keiner kam das nächste Mal wieder zur Gruppe. Ich habe keinen von denen je wieder hier gesehen. Vielleicht hast Du Schwein und bei Dir klappt‘s ja auch mit dieser Wunderheilung“, meinte Roland, während er sich eine neue Zigarette anzündete.
„Eh, Roland, nicht noch eine, wir müssen wieder rein.“
„Na gut, aber eins machen wir noch. Hier!“, sagte Roland und hielt Felix grinsend einen Flachmann mit Schnaps vor die Augen. Aus welcher Tasche er den gezogen hatte, blieb für Felix ein Rätsel.
„Okay, aber nur zwei Schluck.“
Von da an waren die beiden in jeder Pause die Letzten.
Bei den folgenden Treffen trat genau das ein, was auch Roland gegenüber Felix schon angedeutet hatte.
Es kamen Leute zur Selbsthilfegruppe, die nach anfänglichem Zögern begannen, sich vor völlig fremden Menschen zu öffnen und über ihre Probleme zu reden. Die gerade aktuelle Medikation spielte dabei immer eine große Rolle. Relativ schnell wurde Felix so etwas wie ein Spezialist in Sachen Nebenwirkungen der verschiedensten Arzneimittel gegen eine Depression. Aber er wusste auch, dass das alles für ihn nur graue Theorie war, denn er selbst nahm bisher nichts.
Leider kamen keine Leute zu Wort, die das Medikament mit der Bezeichnung 463 eingenommen hatten. Es waren schlichtweg momentan keine in der Gruppe. Felix hatte nun für sich entschieden, solange zu warten, bis einmal jemand auftauchen würde, der Erfahrungen mit eben jenem Medikament gemacht hatte.
Beim Rauchen in der Pause fragte Felix einmal Roland:
„Sag mal, weshalb bist Du eigentlich schon solange hier in der Gruppe? Was suchst Du hier? Sorry, aber entschuldige, Du kommst mir völlig gesund vor. Ich meine…“
Roland fing an zu lachen und meinte dann voll Heiterkeit:
„Echt, echt? Ich bin normal? Ne, Du hast gesagt, ich komme Dir völlig gesund vor! Herrlich! Ach Du bist wirklich goldig! Mann, hätten wir uns bloß schon früher kennen gelernt, ne echt wirklich!“
„Du hast mir meine Frage nicht beantwortet. Ist ja auch nicht schlimm, dachte nur…“
„Okay, okay. Ich versuch‘s zu erklären. Also, es stimmt, ich habe keine mittelschwere oder schwere Depression. Ein Arzt hat bei mir mal eine leichte Depression diagnostiziert. Ich habe mir das nie durch eine Zweitmeinung bestätigen lassen. Ich habe dann nicht nur abends mein Quantum an Alkohol getrunken, sondern auch mittags und schon ging es mir besser.“
„Und was hast Du in die Aufnahmepapiere geschrieben?“
„Ich sage Dir, dem Reißmann kannst du ohnehin nichts vormachen, der hat schnell kapiert, dass ich in der Gruppe für etwas gut bin. Ich bin das Stückchen Normalität für Euch, sorry, den Kranken. Aber eigentlich scheine ich mehr für Reißmann und seine, wie soll ich sagen, für seine Studien zu sein. Ich denke, ich bin das Placebo in dieser Gruppe. Ihr schluckt alle fleißig Eure Mittelchen, bekommt Blut abgenommen und ich schlucke Alkohol in überschaubaren Mengen, genauso wie es der brave Bürger draußen auch macht.“
„Wieso Blut abgenommen, ich denke das ist hier‘ne Selbsthilfegruppe?“
„Okay, dann weißt Du es eben jetzt. Sobald Du beginnst, dein Medikament einzunehmen, wird in regelmäßigen Abständen eine kleine Blutprobe genommen. Da machen bisher auch alle ganz lieb mit, denn sie erfahren, ob ihnen das Mittel wirklich gut tut oder eben auch nicht.“
Die wenigen Stunden in der Selbsthilfegruppe taten Felix jedenfalls, wie er selbst meinte, gut. Er legte wieder mehr Wert auf sein Äußeres.
Zuhause nach den Treffen angekommen, kümmerte er sich um seine Wäsche und fing sogar zu bügeln an. Wenn alles erledigt war, begann er sich zu langweilen. Dieses Gefühl kannte er schon lange nicht mehr. Während er immer häufiger an all die Lebensgeschichten und Schicksale der anderen Gruppenmitglieder dachte, nahm er den Zustand seiner Wohnung plötzlich auch wieder mit anderen Augen wahr.
Hier kann ich niemanden einladen, hier darf niemand rein, viel zu schmutzig und unaufgeräumt, dachte Felix bedauernd.
Nach zwei weiteren Tagen, die Felix als einen Zeitraum mit erdrückender Leere wahrnahm, brüllte er laut in Richtung Fernseher:
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